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Diese reine Rechtswissenschaft ist aber meines Erachtens
doch nicht notwendig nur eine. Die Forderung der Einheit-
lichkeit deckt sich nicht mit der der Einzigkeit, und ich
würde es für ein Mißverständnis halten, diese beiden Vorstellungen
zu konfundieren. Nur eine dualistische oder pluralisti-
sche Konstruktion im Sinne des selbständigen Nebenein-
anderbestehens von unabhängigen Ordnungen in einem System ist
unvollziehbar, möglich bleibt ein Dualismus oder Pluralis-
mus von Konstruktionen". Konkret gesprochen: Die
Rechtswissenschaft ist gewiß ein Ungedanke, die Völkerrecht und
Staatsrecht unabhängig voneinander, aber gleichzeitig nebenein-
ander, in gleichwertiger Geltung stehend behauptet. Aber es läßt
sich meines Erachtens ohne weiteres die Vorstellung einer Mehr-
heit von Theorien vollziehen, von denen die eine den Primat
des Völkerrechtes, die andere den Primat des Staatsrechtes oder
genauer eines bestimmten Staatsrechtes zur Hypothese hat. Ob
diese beiden voneinander unabhängigen, gleicherweise möglichen
Systeme gleicherweise als Rechtssystem anzusprechen seien,
— woran KELSEN allerdings entschieden Anstoß nimmt — er-
scheint mir als eine untergeordnete terminologische Frage.
Wenn man sich nur dessen bewußt bleibt, mit demselben Aus-
druck grundlegend Verschiedenes zu bezeichnen, wenn man sich
den Terminus in den verschiedenen Bedeutungen, in denen er ver-
wendet wird, mit verschiedenen Vorzeichen vorstellt, dann hat die
Gemeinsamkeit des Ausdruckes, die bei der beschränkten Aus-
drucksfähigkeit der Sprache schwer vermeidbar ist, nichts Be-
denkliches gegen sich. Man muß sich also vor Augen halten,
daß das Wort Völkerrecht unter der Voraussetzung des Primates
17 So auch KELSEN S. 150 — im Ausdruck vielleicht nicht ganz deut-
lich —: „Eine dualistische Konstruktion des Verhältnisses zwischen Völker-
recht und staatlichem Recht ist zwar logisch nicht unmöglich, aber die
völkerrechtliche Theorie hat diese Konstruktion nicht folgerichtig
durchgeführt.“