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zwingt“ (S. 190). Wären unter diesen Werten Rechtswerte zu
verstehen, so würde dies die Position des Staatsrechtsprimates
problematisch machen; es handelt sich aber „nur“ um den Ver-
zicht auf die „Idee einer Gesellschaft gleichberechtigter Gemein-
wesen“, also einen sozialethischen oder kulturpolitischen Wert,
dessen Unrealisiertbleiben logisch der Annahme des Staatsrechts-
primates nichts anhaben könnte.
Diese Feststellungen sind an dieser Stelle dadurch veranlaßt,
daß neuestens FRITZ SANDER, von KELSENs Lehre zwar ausgehend,
aber weit über sie hinausgehend, die Möglichkeit eines Stehen-
bleibens der Rechtskonstruktion bei der einzelnen Staats-
rechtsordnung negiert und den Rückgriff zur Völ-
kerrechtsordnung postuliert hat. An Stelle einer Fülle geist-
voller von SANDER ausgesprochener Formulierungen des Gedankens
vom Völkerrechtsprimat sei nur folgende vollendetste zitiert: „Der
letzte empirische Maßstab, der im Gebiete des reinen Willens
gegeben ist, sind die Verfahren des Völkerrechtes, die frei-
lich selbst wieder in mehreren Stufen sich vollziehen. Die Ver-
fahren des Völkerrechtes sind daher die empirische Er-
füllung des Postulates des Staates. Die Verfahren des Völker-
rechtes sind der Weltstaat“1®, SANDER hält demnach nur ein
Völkerrechtssystem für möglich, weil nur in diesem
Systeme die gesamte Rechtserfahrung beschlossen sei. Was
nötigt aber denn, so muß ich einwenden, den Theoretiker, die
Erscheinungen des Völkerrechtes ebenso wie die einer bestimm-
ten Staatsrechtsordnung zur Rechtserfahrung, zum Recht der
gleichen Kategorie zu rechnen? Der Erkenntnisdrang, der sich
als Vereinheitlichungsbestreben äußert, tendiert ja wohl dahin,
ı8 „Die transzendentale Methode der Rechtsphilosophie und der Begriff
des Rechtsverfahrens.*“ Zeitschrift für Öffentl. Recht, Wien, Verlag Deuticke,
Jahrgang 1919, S. 488. — Erwähnt sei noch die neueste Schrift SANDERSs
über „Alte und neue Staatsrechtslehre, Zeitschrift für öffentl. Recht, 1920,
ferner nochmals auf die in Anm. 9 zitierte Schrift hingewiesen.