— 3355 0 —
der Parlamentarismus in der Form des Stimmzettels gebracht hatte, durch
die unmittelbare tätige Mitarbeit jedes Einzelnen am Staatsleben zu ver-
drängen. Der Einzelne soll den Staat als sein en Staat empfinden lernen;
er soll unmittelbar fühlen, wie seine Interessen im Staate zur Geltung
kommen, wie ihnen in immer fortschreitender Vollkommenheit entsprochen
wird und wie seine Sonderwünsche eingeschränkt werden müssen, wo
wesentliche Interessen der Gesamtheit in Frage stehen. Die berufsstän-
dische Vertretung bildet nur ein Mittel zur Erreichung dieses Zieles; ein
anderes Mittel, dessen Tragweite sich heute noch nicht übersehen läßt,
ist der stufenförmige Aufbau der Volksvertretung auf den Gemeinden.
Beruf und Gemeinde sind die beiden Stätten, an denen sich das tägliche
Leben des Einzelnen mit denen der Gesamtheit am engsten berührt. In
diesen beiden müssen wir die Kräfte suchen, die Staat und Volksseele
miteinander verknüpfen.“
Von dieser Vereinigung von Volksempfinden und Staatsbewußt-
sein sind wir freilich auch heute noch weit entfernt. Sie ist und
bleibt ein hohes Ideal, dessen Verwirklichung das oberste Ziel der
Staatspolitik jederzeit wird bilden müssen. Erreicht werden kann
dieses nur durch Heranziehung der lebendigen Kräfte des Volkes
für die Zwecke der Allgemeinheit, nicht aber durch die jetzige
Regierungsform, bei der nur Parteiinteressen den Ausschlag für
alle wichtigen Entscheidungen im Staatsleben geben °°.
2. Das Staatsoberhaupt.
818. a) Schon aus der Vorstellung des Staates als eines Organis-
mus, aus seinem Wesen als eines einheitlich organisierten Ver-
bandes folgt die Notwendigkeit des Daseins von Staatsorga-
nen. „Ein Staat ohne Organe ist eine unvollziehbare Vorstel-
lung, gleichbedeutend mit der Anarchie, daher eine contradictio
in adiecto.* „Jeder Staat bedarf aber eines höchsten Orga-
nes, welches den Staat in Tätigkeit setzt und erhält und die
oberste Entscheidungsgewalt besitzt“ (G. JELLINEK Allg. Staats-
6? So hat schon Bismarck am 12. Juni 1882 ausgesprochen: „Wenn
man einen Entschluß faßt, so fragt man nur noch: was hat die Fraktion
davon? und nicht, was hat das Reich davon?“, und am 9. Mai 1884: „Die
politischen Parteien sind der Verderb unserer Verfassung und der Verderb
unserer Zukunft“ (Bismarck, Polit. Reden Bd. IX S. 3861 und Bd. X S, 130).