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Behauptung stützen, daß in der revolutionären Zeit die in der schlüs-
sigen Handlung liegende Willenserklärung der gesetzgebenden Gewalt
trotz ihrer Formlosigkeit Gesetz sein konnte. Ein so weitgehendes
revolutionäres Recht ist in Braunschweig von den revolutionären Ge-
walten und der erstmalig gewählten Landesversammlung offenbar nie
beansprucht worden. Im Gegenteil ist durch das Gesetz zur Aen-
derung der Neuen Landschaftsordnung vom 20. Juni 1919 in $3 aus-
drücklich bestimmt worden, daß eine Verkündung in der Gesetz- und
Verordnungssammlung erfolgen müsse. Eine Aufhebung durch schlüs-
sige Handlung kann also nicht in Frage kommen. Es bleibt nur die
Möglichkeit, daß das Gesetz vom 15. Nov. 1918 durch $ 3 der vor-
läufigen Verfassung vom 1. März 1919 unmittelbar abgeändert worden
ist. Stünden beide Gesetze miteinander in Widerspruch, so würde der
allgemein geltende Rechtssatz: lex posterior derogat priori Anwendung
finden. Dieser Gedanke spielt auch verschleiert in die Ausführungen
der Begründung hinein. Es wird gesagt, mit der Stellung einer kon-
stituierenden Nationalversammlung sei eine zeitliche Beschränkung ihrer
Funktionen nicht vereinbar. Wäre dieser Satz richtig und wäre die
Braunschweigische Landesversammlung wirklich eine konstituierende
Nationalversammlung gewesen, so würde man folgern können, daß die
spätere Bestimmung die frühere abgeändert habe. Beide Voraus-
setzungen sind indessen nicht gegeben.
Die Braunschweigische Landesversammlung ist keine konstituie-
rende Nationalversammlung im eigentlichen souveränen Sinne gewesen.
In Braunschweig hatte die Revolution die Räteverfassung eingeführt.
Das vom Arbeiter- und Soldatenrat am 15. Nov. 1918 erlassene Wahl-
gesetz ordnete Wahlen zu einer zeitlich beschränkten Landesvertretung
an, die der Kontrolle und deren Beschlüsse dem Einspruche der Räte
unterworfen waren (85 des Gesetzes vom 12. Nov. 1918 über die Ar-
beiter- und Soldatenräte). An dieser ihrer neben- oder sogar nur unter-
geordneten Stellung ist durch $ 3 der vorläufigen Verfassung nichts
geändert worden. Nur durch einen neuen revolutionären Akt wäre es
möglich gewesen, daß sich die mit beschränkten Befugnissen gewählte
Landesvertretung zur selbständigen Konstituante gemacht hätte‘. Daß
ein solcher revolutionärer Akt indessen nicht beabsichtigt gewesen ist,
* Diese Auffassung ist vertreten in einer „Denkschrift über den ver-
fassungsrechtlichen Zustand des Freistaates Braunschweig“ von Land-
gerichtsrat E Ruben.