— 243 —
1848. Verf. zeigt, daß schon in der französischen Revolution Strömungen
wirksam sind, die sich mit den Lehren ROUSSEAUs, dieses Klassikers der
formalen Demokratie, in Widerspruch setzen. Nicht die Kopfzahl, sondern
die Bedeutung eines Standes scheint MIRABEAU, der für eine Vertretung
der im Staatsleben wichtigen Stände eintritt, maßgebend für den Anspruch
auf Repräsentation (8.20). Schon in dieser Ansicht MIRABEAUS zeigt sich
die beherrschende Idee, die dann bei den Befürwortern einer berufsständi-
schen Vertretung in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder im
Vordergrund steht: Schutz vor der Masse, vor dem reinen Schwergewicht
der Zahl. Alle drei in dieser Zeit in den deutschen ST. für den Staat aus-
schlaggebenden Kräfte, die alten Geburtsstände, das nach politischer Macht
strebende Bürgertum und die Regierungen geben deshalb der berufsständi-
schen Vertretung den Vorzug, zumal die breiten Massen in dieser Zeit als
politischer Machtfaktor noch nicht in Frage kommen (S. 22/23). Auch das
Schrifttum dieser Zeit befürwortet überwiegend die ständische Gliederung,
sei es vom Standpunkt des naturrechtlichen Individualismus heraus, wie
RoOTTECK (S. 23 ff.), sei es seitens der Vertreter einer organischen Staats-
lehre, wie DAHLMANN und SCHLOSSER (S. 25 ff.), sei es schließlich über-
wiegend auf religiöser Grundlage, wie STAHL (S. 28). Praxis und Theorie
erscheint so die ständische Gliederung der Volksvertretung als „das nächst-
liegende Mittel, diejenigen Gesellschaftsschichten, die das öffentliche Leben
bestimmen, den grundbesitzenden Adel und das gebildete und besitzende
Bürgertum, auch formell im Staatsleben zur Geltung zu bringen“ (S. 29).
Spielte in dieser Periode die Ausgestaltung des Wahlrechts noch keine
Rolle, so beherrschen die Kämpfe um dasselbe um so mehr die vom Verf.
im 2. Abschnitt geschilderte Periode von 1848—1918. Mit der Entstehung
und dem raschen Wachsen des industriellen Arbeiterstandes tritt die Be-
deutung des Zahlenverhältnisses in den Vordergrund. Beide bisher herrschen-
den Stände glauben auf Grund der von ihnen vertretenen allgemeinen
politischen Idee sich die Macht der Mehrheit zunutze machen zu können.
So findet der Gedanke des allgemeinen Wahlrechts allgemeinen Anklang.
An die Stelle der ständischen Gliederung tritt die politische Parteibildung.
Das Schrifttum dieser Periode, soweit es demgegenüber die Idee der beruf-
ständischen Vertretung weiter vertritt, übersieht zum Teil diese Verschie-
bung der politischen Kräftevertretung und weist rein in die Vergangenheit
(vom Verf. als „alte Lehre“ bezeichnet, vgl. $. 53). Aber wir sehen auch
schon Vertreter einer neuen Lehre, die sich von vornherein in Gegensatz
zu dem Parteileben stellte und im Gegensatz zu der Herrschaft abstrakter
Parteiprinzipien die Wahrung der wahren Volksinteressen in der Ver-
tretung der einzelnen Berufe sieht (8. 53). Als bedeutendsten Vorläufer
dieser neuen ldeen bezeichnet der Verf. SIMONDE DE SISMONDI in seinen
Etudes sur les constitutions des peuples libres, 1836, der ausführt, „daß
jede Mehrheitsberrschaft eine Unterdrückung eines Volksteils durch den
16*