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Die große Bedeutung der Unterscheidung von Urteils- und
Handlungsnormen beruht darin, daß mit ihrer Hilfe manche wichtige
Rechtserscheinungen erst erklärt werden können. Ein vortreflliches Bei-
spiel dafür bilden die Begriffe Gesetzmäßigkeit und Gesetzwidrigkeit.
Beide werden nicht nur auf menschliche Handlungen, sondern auch auf
andere rechtlich erhebliche Tatbestände wie Eigenschaften, Zustände, Er-
eignisse der lebenden wie der leblosen Welt angewendet. Wer keine ge-
setzlichen Urteilsnormen, sondern nur Handlungsnormen kennt, kann als gesetz-
mäßig oder gesetzwidrig nurmenschliche Handlungen, und zwar nur die gesetz-
lich gebotenen oder verbotenen, bezeichnen und muß alles übrige als gesetzlich
indifferent erklären. Erst die Urteilsfunktion bietet die Möglichkeit, vom
Standpunkt des Gesetzgebers aus alle rechtlich erheblichen Tatsachen, also
auch Eigenschaften, Zustände, Ereignisse, als gesetzmäßig oder gesetz-
widrig zu qualifizieren, je nachdem der Gesetzgeber die fragliche Tatsache
billigt oder mißbilligt. Diese Feststellung bleibt unbeeinflußt durch den Um-
stand, daß die beurteilten Tatsachen nıcht um ihrer selbst willen, sondern
nur mit Beziehung auf Personen vom Gesetzgeber gebilligt oder mißbilligt
werden, andernfalls die Tatsache in den gesetzesfreien (rechtsleeren) Raum
fällt. Ein nicht minder beachtenswertes Beispiel ist die nun erst mög-
liche Unterstellung der erlaubenden Gesetzessätze unter den Rechtsbegriff.
Vom Standpunkt der Imperativnorm ist eine gesetzliche Erlaubnis recht-
lich indıfferent. Nur die Urteilsnorm erklärt den Rechtscharakter der Er-
laubnisse. Erlaubnisse sind solche Urteilsnormen, in denen das Gesetz das
freie Belieben hinsichtlich eines bestimmten Verhaltens billigt, also weder
gebietet noch verbietet. Natürlich muß auch hier eine Beziehung zu einem
Imperativ gegeben sein; sie besteht darin, daß sich an das erlaubte Han-
deln eine Rechtspflicht anderer Personen anknüpft, andernfalls wäre das
Belieben rechtlich indifferent. Diese Ausführungen weichen von den seit-
her üblichen Definitionen der Erlaubnis ab, sind aber durch trefiende Gründe
gerechtfertigt.
Im Anschluß an diese Aufstellung und Begründung seiner eigenen
Normentheorie nimmt W. zu den bisher vertretenen Theorien über
die Normennatur des Rechts kritisch Stellung. Er unterscheidet
die Theorien, die dem Recht nur eine Gedankenart zuerkennen, nämlich
entweder nur die Form des Imperativs (Tmon, BIERLING, HoLD voN
FERNECK) oder nur die Form des Urteils (früher ZITELMANN), und die
Theorien, die dem Recht zwar mehrere Arten von Gedanken zuschreiben,
jedoch über ihre Arten und deren Verhältnis zueinander nicht klar und
einheitlich sind (MERKEL, MAIER, SCHOETENSACK, besonders SoMLO). Die
Polemik ist sachlich, die Kritik treffend. Natürlich ist bier nicht der Ort,
auf die scharfsinnigen Deduktionen W.' näher und mit eigener Kritik ein-
zugehen. Es sei nur festgestellt, daß W. alle Argumente seiner Gegner
trefflich auszuwerten weiß, um seine eigene Auffassung zu behaupten und