Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 42 (42)

86 — 
wärtig die Braunschweigische Landesregierung vertritt. Sie behaupteten: 
Verfassungsstreitigkeiten sind nur Streitigkeiten zwischen Regierung und 
Landesvertretung; eine solche Streitigkeit besteht in Mecklenburg nicht; 
folglich ist Art. 76 Abs. 2 nicht anwendbar, vgl. z. B. Reichstagsverh. vom 
12. Mai 1869 Sten. Ber. S. 941 (mecklenbg. Staatsminister v. Bülow), vom 
24. Januar 1905 Sten. Ber. S. 4001 (Staatssekretär Graf Posadowsky). 
Dagegen herrschte im Reichstage eine andere Auffassung vor, die in 
einem Bericht der Petitionskommission vom 1. Mai 1869 besonders ein- 
gehend begründet worden ist. In diesem Bericht (Reichstagsverh. Bd. 9 
S. 515) ist gesagt: 
„Eine ältere Ansicht gestand die Berechtigung (sc. zur Erhebung des 
Verfassungsstreits) nur den Ständen oder repräsentativen 
Körperschaften zu Allein man hat sich überzeugt, daß diese 
Ansicht ad absurdum führt. Denn mit ihr können die Regierungen einen 
ihnen unbequemen Verfassungsstreit offenbar dadurch vereiteln, 
daß sie die berechtigte Körperschaft auflösen und 
damit das zur Streiterhebung allein berechtigte Subjekt vernichten. 
Dasselbe gilt von einer anderen Ansicht, nach welcher jeder 
einzelne Staatsbürger als solcher einen Verfassungsstreit beliebig 
erregen kann. Denn das würde jedem Sonderling die Befugnis verleihen, 
Regierung und Volk in Aufregung um die höchsten Interessen des Staats 
zu ersetzen und zu erhalten. 
Dagegen verdient eine Mittelansicht Anerkennung, 
welche zwar die Berechtigung der Staatsangehörigen zu 
Klagen über Verfassungsverletzungen in thesi statuiert, 
aber um Frivolitäten zu verhüten, im einzelnen Falle (in hypothesi) 
jenach dessen Beschaffenheit dem richterlichen Er- 
messen unterstellt wissen will. 
Vgl. auch Bericht der Petitionakommission vom 31. Mai 1872 (Reichstagsverh. 
Bd. 26 Drucks. Nr. 120 S. 537 ff.), ferner die Sitzungsberichte vom 12. Mai 
1869 (Reichstagsverh, Bd. 8 S. 941 fl.) und 12. Juni 1872 (Reichstagsverh. 
Bd. 25 S. 943 ff.). 
In der staatsrechtlichen Literatur haben schon seit den 
Tagen des Deutschen Bundes angesehene Schriftsteller die Meinung ver- 
treten, daß in besonderen Ausnahmefällen dieBerechtigung 
einzelner Personen und Körperschaften zur Erhebung von 
Verfassungsbeschwerden bei dem Bundestag bzw. Bundesrat anerkannt 
werden müsse, vgl. ZACHARIÄ, Deutsches Staats- und Bundesrecht 3. Aufl. 
(1867) Bd. 2 S. 777, HÄneı, Deutsches Staatsrecht (1892) S. 568, MEYER- 
AnscHÜTz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts 7. Aufl. (1919) S. 943 
Anm. 12, FLEISCHMANN, Die Zuständigkeit des Bundesrats für Erledigung 
von öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten (1904) S. 37. Allerdings war die 
Frage auch in der Literatur sehr bestritten. Der Standpunkt der Regie-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.