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einem anderen einen Nachteil zufügen darf, und zwar entweder dann, wenn
er unberechtigterweise uns angreift, oder dann, wenn auf beiden Seiten
anzuerkennende Interessen stehen, die miteinander nicht in Einklang ge-
bracht werden können. Die zweite Schwierigkeit hat darin ihren Grund,
daß nicht alle Menschen dazu bereit sind, das, was sie an sich als ethisch
berechtigt anerkennen müssen, auch tatsächlich zur Ausführung zu bringen
(verbrecherischer Wille). Dazu kommt endlich, daß die Durchführung der
ethischen Forderungen nur insoweit gelingt, wie derjenige, dem sie obliegt,
nicht nur den guten Willen, sondern auch die erforderliche äußere Macht besitzt.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, daß selbst für die Verhältnisse
innerhalb eines Staates die von den Pazifisten aufgestellte Be-
hauptung, daß das Recht an die Stelle der Gewalt getreten sei, nur in sehr
beschränktem Umfange zutrifft, denn ganz abgesehen davon, daß der Staat
das von ihm als Recht anerkannte, nur solange ohne Störung des Friedens
verwirklichen kann, wie es sich um weniger Perscnen handelt, während
gegenüber den großen Massen seine Macht versagt (Revolution, Bürgerkrieg),
ist auch keineswegs Gewähr dafür geboten, daß das durch die Gesetzgebung
geschaffene positive Recht stets mit dem ethischen zusammenfällt. Aber selbst
wenn dies zutrifft, wird es vielfach nicht von allen Staatsbürgern anerkannt
werden, während doch für die Frage, ob sie sich verpflichtet fühlen müssen,
sich den getroffenen Anordnungen widerstandslos zu fügen, nur ihre eigene,
ihre subjektive Auffassung entscheiden kann.
Ist innerhalb des Staates das pazifistische Ideal immerhin bis zu einem ge-
wissen Grade verwirklicht, so ist es dagegen ein weiterer Irrtum anzunehmen,
daß etwas Aehnliches auch in dem Verhältnisse der Staaten unterein-
ander sich erzielen läßt, denn das, was innerhalb eines Staates die Ausnahme
ist, nämlich die verschiedene Beurteilung des Rechtes und der bewußte Wider-
stand gegen dessen Geltendmachung, wird hier umgekehrt die Regel bilden.
Das gilt auch für alle drei Stufen, die dabei in Betracht kommen, nämlich
die Aufstellung der Normen durch die Gesetzgebung, die Entscheidung des
Einzelfalles auf Grund dieser Normen, durch die dafür eingesetzte Instanz
und die zwangsweise Vollstreckung des ergangenen Spruches. Ueberall wird
nicht das ethische echt, sondern das reale Machtverhältnis der beteiligten
Staaten den Ausschlag geben. —
Es ist nicht möglich, von dem reichen Gedankeninhalt der wertvollen
Arbeit hier mehr als eine dürftige Skizze zu geben. Allen, die den Wunsch
haben, über das wichtige Problem des Weltfriedens, das jetzt durch den
Plan des Völkerbundes aus dem Stadium bloß theoretischer Erörterungen
herausgehoben und in den Mittelpunkt der praktischen Politik gerückt ist, sich
ein unbefangenes Urteil zu bilden, ist das Studium der Schrift warm zu emp-
fehlen. Sie ist gut disponiert und behandelt die einzelnen Fragen mit logischer
Schärfe. Die einschlägige Literatur ist sorgfältig angegeben und ver wertet.
Braunschweig. W.Kulemann.