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Einzelstaaten sich in ihrer auswärtigen Tätigkeit mit derjenigen
des Reiches in Widerspruch setzten. Dies wurde indessen aus
der Natur der Sache, d. h. aus dem Wesen des Reiches als
einer den Einzelstaaten übergeordneten, höheren Einheit ge-
folgert. Einen ausdrücklichen Ausspruch darüber wies das
ältere Recht nicht auf. Das Reich konnte hier seine verfassungs-
mäßigen Rechte den Ländern gegenüber auf Einhaltung jener
durch die Natur der Sache gegebenen Grenze nur durch das
Mittel der Reichsaufsicht geltend machen. Heute hingegen ge-
winnt kraft der genannten ausdrücklichen Vorschrift das Reich
unmittelbar Einfluß auf die Vertragsschlüsse der Länder — eine
Verstärkung des unitarischen Gedankens.
In gleicher Weise bat eine Verstärkung des uni-
tarischen Zuges hinsichtlich des Rechts der Grenzver-
änderungen stattgefunden. Die Grundsätze desselben wurden
nach dem früheren Rechte durch Interpretation auf dem Wege
des logischen Schlusses aus dem Vertragsrecht® des Reiches und
der Einzelstaaten einerseits, aus dem Wesen des Reiches und der
Einzelstaaten als ausgerüstet mit Gebietshoheit andererseits ge-
wonnen. Das Reich galt als zu einseitigen Grenzveränderungen
der Einzelstaaten durch Staatsverträge ım Frieden nicht befugt.
Eine Mitwirkung der Einzelstaaten war erforderlich. Grenzver-
änderungen erfolgten praktisch durch korrespondierende Verträge
sowohl des Reiches als auch der Einzelstaaten ?°*, durch welche
beide je für sich die ihnen zustehenden besonderen Kompetenzen
ausübten. Das heutige Recht kennt auf diesem Gebiete kein
Vertragsrecht der Länder mehr. Nach Artikel 78 Abs. 3 werden
vielmehr „Vereinbarungen mit fremden Staaten über Veränderung
der Reichsgrenzen nach Zustimmung des beteiligten Landes durch
das Reich abgeschlossen.“ Zwar tritt die verfassungs-
*5@& So mit treffender Begründung HÄNEL a. a. O. S. 558 Anm. 24;
a. M. AnscHaütz a. a. O. Note 5 zum Artikel 78 und MEYER-ANSCHÜTZ,
Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Auflage 1919, $ 164 Anm. s. S. 696.