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Macht der Vertragsparteien einerseits und ihren Lebenserfordernissen an-
dererseits materiell entspricht (S. 102/3).
Diese Vorstellung vom Sozialrecht ist keine Fortbildung der Sinzheimer-
schen Lehre (siehe auch Arbeitsrecht IX S. 598), wie ich sie verstehe; sie
identifiziert die von Sinzheimer vorgeschlagene, der Erkenntnis des Sozial-
rechts besonders förderliche rechtssoziologische und entwicklungsgeschicht-
liche Methode mit dem Gegenstand ihrer Betrachtung, dem Sozialrecht
selbst, sie verwechselt das Sozialrecht auf seiner heutigen Entwicklungs-
stufe mit dem Sozialrecht in abstracto. Dieses aber ist nicht notwendig
im Fluß; nach dem Abschluß einer größeren gesellschaftlichen Umschich-
tung findet es ebenso seine feste Form wie alles Recht und folgt der all-
mählichen Weiterentwicklung ebenso wie dieses nach. Will man den Be-
griff des Sozialrechts in abstracto festlegen, so muß man sich der doppelten
Bedeutung des Wortes sozial im Sinne STIER-SOMLOs (deutsche Sozialgesetz-
gebung $. 1 ff.) seiner formalen und materiellen Bedeutung bewußt bleiben.
Formal ist Sozialrecht, das den einzelnen nicht als Individuum, sondern als
Mitglied einer societas bewertet, materiell ist Sozialrecht in geschichtlicher
Ueberkommenschaft die Summe von Rechtsnormen, welche einen Ausgleich
zu erstreben suchen zwischen den staatsschutzbedürftigen, wirtschaftlich
schwachen Individuen und ihrem sozialen Gegenspieler, zwischen unselb-
ständig Erwerbstätigen und Produktionseignern, beides in weitestem Sinn
verstanden; in dieser Bedeutung ist Sozialrecht — ebenso etwa wie Wirt-
schaftsrecht — keine mit den Begriffen des öffentlichen oder privaten Rechts
vergleichbare Größe; es bezeichnet Inhalt, Zweck, Tendenz eines Rechts-
kreises, der sowohl öffentlich- wıe privatrechtliche Normen enthalten kann.
Erst wenn die schutzbedürftige Klasse durch die zu ihrem Schutze erlas-
senen Rechtsnormen im gesellschaftlichen Umschichtungsprozeß sich so als
societas in der Staatsgemeinschaft herausgebildet hat, von dieser losgelöst
und vom Individuum geschieden eine derart selbständige Gruppe darstellt,
daß man den einzelnen als Rechts- und Pflichtensubjekt nur dieser sozialen
Sondergruppe betrachten kann, ist das Sozialrecht im formalen Sinn ent-
standen, das sich gleichwertig neben privates und Öffentliches Recht stellen
läßt. Ob dieser Prozeß innerhalb des geltenden materiell-sozialen Rechts-
kreises schon so weit vorgeschritten ist, daß hier auch von einem formalen
Sozialrecht die Rede sein kann, mag dahingestellt bleiben; die Frage läßt
sich nicht inzidenter lösen, sondern erfordert gründlichste wissenschaftliche
Untersuchung.
Auch sonst scheint mir noch mancherlei anfechtbar; so ist z. B. nicht
dargetan, weshalb gerade der Beamte die ihm obliegende Arbeitspflicht
außer acht lassen und streiken darf, während der Arbeitnehmer im Ar-
beitsvertrag durch die gleiche Handlung in der Regel Vertragsbruch be-
geht, sich schadenersatzpflichtig macht, wenn er zu einer Zeit, da die
Kündigung nicht zulässig ist — der Beamte kann und will im Streik nicht