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Warnungen entgegenzuhalten: gewiß ist die philosophische Behandlung
der Jurisprudenz begrüßenswert und notwendig, aber das Studium oder
gar nur die Lektüre philosophischer Werke macht noch keinen Juristen.
Es droht die Mode einzureißen, ein philosophisches System, das einem
gerade paßt, mehr oder weniger wörtlich ins Rechtliche zu transponieren....
Die zweite Warnung betrifft folgendes: KELSEN und SANDER sind strenge
Positivisten, aber auch vorwiegend Rechtstheoretiker, die nur höchst selten
ihre Konstruktionen mit Exempeln aus den erfahrungsmäßig gegebenen
also positiven Normen illustrieren . . . Auch die reine Rechtslehre ist in
gewissem Sinne dogmatischh, daß ihr nämlich KAntT als Dogma gilt“
(S. 66 #f.). Aber dieser Vorwurf kann jedenfalls mich nicht treffen. Zu-
nächst gilt mir KAnT nicht als Dogma, habe vielmehr gerade ich in allen
meinen Schriften an Kants Naturrechtsliehre die schärfste Kritik geübt.
Ich halte aber diePhilosophieebensofürdienotwendige
Grundlage jeder wahren Rechtswissenschaft, wie die
Mathematik die notwendige Grundlage jeder wahren
Naturwissenschaftist. Daß die Philosophie die methodische Vor-
aussetzung jeder Geisteswissenschaft ist, weil jede Geisteswissenschaft sich
in Reflexion auf „Geist“, „Bewußtsein“, „Sinn*, „Bedeutung“ bewegt, ist
ein in allen anderen Geisteswissenschaften — Aesthetik, Sprachwissenschaft,
Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft — immer mehr zum Durch-
bruch kommender Gedanke. Der Bund zwischen Philosophie und Geistes-
wissenschaften wird immer enger und die Rechtswissenschaft darf sich,
soll sie nicht jede Bedeutung verlieren, nicht ausschließen. Es ist aber
gar keine Rede davon, daß ich ein gerade mir passendes philosophisches
System auf das Recht anwende: vielmehr arbeite ich mit Gedanken KAnTs,
WINDELBANDSs, RIEKERTs, LASKs, COHENs, NATORPR, CASSIERERSs, BRENTANOSs,
MARJYs, MEINONGs, HUSSERLs, PEARSONs, VAIHINGERS, VOLKELTS, KRIES
u. & Weder bin ich also irgendwie dogmatischer Kantianer noch sind
meine rechtstheoretischen Arbeiten an ein bestimmtes philosophisches
System gebunden, müssen vielmehr vor jedem modernen philosophischen
Systeme die Probe ihrer Richtigkeit bestehen können. Nur der Laie oder
der Schulgläubige vermeint, daß allen modernen philosophischen Strö-
mungen die gemeinsame Einheit der Problemstellung mangelt. Meine
rechtstheoretischen Arbeiten haben zunächst der Feststellung der rechts-
wissenschaftlichen Methode gedient, als solche habe ich aber gerade die
deskriptive Analyse des positiven Rechtes erkannt, so
daß für mich nicht — wie Kunz sagt — „stolze erkenntnistheoretische
Formeln im Munde® (S. 87), sondern das Recht selbst und allein das
Kriterium rechtstheoretischer Wahrheit ist. In meinen neuesten Schriften
(„Der Begriff der Rechtserfahrung“, Logos 1922, und KELSENs Rechtslehre*,
Tübingen 1923) habe ich gerade meine These, daß die Rechtssätze nicht
Normen, sondern Realurteile sind, vor allem auf die Analyse kon-