— 330 ° —
gemein geprüft worden wäre, ob und inwieweit die Finanzbehörden
und Finanzgerichte nach der Auffassung des RFH.s ermächtigt sind,
einer Norm deshalb die Anwendung zu versagen, weil sie einer anderen
höheren Ordnung widerspricht. Grade über die Bedeutung und
den Umfang des sog. ‚„richterlichen Prüfungsrechts“ im
Bereich der Reichsfinanzverwaltung sind aber vom RFH. mehrere
bemerkenswerte Entscheidungen erlassen worden. $ie sollen nach
folgenden Gesichtspunkten gruppiert werden: Inwieweit sind die Finanz-
verwaltungsbehörden befugt, die Rechtsgültigkeit von Gesetzen
und Verordnungen nachzuprüfen? Inwieweit steht den mit richter-
licher Unabhängigkeit ausgestatteten Finanzbehörden, insbesondere dem
RFH, selbst, das Recht zu solcher Prüfung zu? Nach welchen Grund-
sätzen ist im einzelnen die Prüfung vorgenommen worden?
Bezüglich des Prüfungsrechts der Steuerverwaltungsorgane
weicht die grundlegende Entscheidung des IV. Senats (Bd. 7 8. 97)
nicht von der herkömmlichen Meinung ab; sie enthält aber mehrere
wichtige Klarstellungen: Der Reichsfinanzminister ist nach 8 13 ITAO.
befugt, den Landesfinanzämtern (wie den Finanzverwaltungsbehörden
überhaupt) Anweisungen zu erteilen, denen die nachgeordneten
Stellen zu folgen verpflichtet sind. Diese Pflicht besteht für die
Landesfinanzämter auch dann, wenn sie als Rechtsmittelbehörden (im
Anfechtungsverfahren) zur Entscheidung berufen sind, denn auch als
Rechtsmittelinstanz bleiben sie Verwaltungsbehörden, denen richter-
liche Unabhängigkeit nicht zukommt. Aus dieser Pflicht der dem
Finanzminister untergeordneten Instanzen, die Anweisungen der Zentral-
behörde ohne weitere Nachprüfung ihrer Rechtsgültigkeit zu beachten,
folgt a fortiori auch die Pflicht, die im Reichsgesetzblatt verkündeten
Gesetze, „welche durch die Form der Verkündigung das verfassungs-
mäßige Zustandekommen verraten,“ als rechtsgültig anzusehen und
demgemäß anzuwenden. Der RFH. gesteht also den Verwaltungs-
behörden wohl das Recht zu, bei Gesetzen das Vorhandensein der zur
Rechtsgültigkeit erforderlichen äußeren Formerfordernisse nachzuprüfen,
er versagt ihnen aber eine Prüfungsbefugnis sowohl dahin, ob die im
Reichsgesetzblatt veröffentlichte Verkündigungsformel den Tatsachen
entspricht (ob also z. B. wirklich ein „Beschluß“ des Reichstags er-
gangen ist), wie auch, ob ein Gesetz dieses Inhalts überhaupt ergehen
durfte, ob insbesondere nicht Verfassungsgrundsätze dem Erlaß ent-
gegenstanden. Analoges hat für die Prüfungsbefugnis bei Verordnungen
zu gelten: sie beschränkt sich darauf, festzustellen ob die Verordnung