8 17. Der Bundesrath. 95
„Bei der Beschlußfaffung über eine Angelegenheit, welche nach den Be-
stimmungen dieser Verfassung nicht dem ganzen Reiche gemeinschaftlich ist,
werden die Stimmen nur derjenigen Bundesstaaten gezählt, welchen die
Angelegenheit gemeinschaftlich ist.“ «
Die entsprechende Bestimmung für den Reichstag, welche als Absatz 2 in
Artikel 28 der Reichsverfassung Aufnahme fand, ist durch Gesetz, betreffend die
Abänderung des Artikels 28 der Reichsverfassung vom 24. Februar 1873 (R.-G.-Bl.
1873, S. 45), aufgehoben.
Der Sinn der im letzten Absatze des Artikels 7 enthaltenen Vorschrift ist durch
den Wortlaut und die bei Berathung der Reichsverfassung im Jahre 1870 ge-
pflogenen Reichstagsverhandlungen unzweifelhaft fest= und klargelegt worden.
Nicht gemeinschaftlich ist die Angelegenheit nur, wenn die Gemeinschaftlichkeit
„nach den Bestimmungen dieser Verfassung“, nicht wo fie nur that-
sächlich fehlt. Nicht gemeinschaftlich sei die Angelegenheit, so erklärte der Minister
Delbrück auf die Anfrage von Lasker, wenn es sich um solche Verhältnisse
handle, „bei welchen nach der Verfassung selbst die ganze Institution nicht ge-
meinschaftlich ist“ (Sten. Ber. des Reichstages 1870, II. außerordentliche Session,
S. 122, 124). So find das Militärwesen und der Militäretat auch für Bayern
gemeinschaftlich, obgleich Bayern Reservatrechte hat und die Kosten für seine
Heeresverwaltung in einem Betrage vom Reiche erhält; so waren die Zölle und
Verbrauchssteuern gemeinschaftlich, obgleich die Freihafengebiete von ihnen befreit
waren (Delbrück, 1. c. S. 123, Arndt, Komm. zur Reichsverfassung, S. 120,
Seydel, Comm., 2. Aufl., S. 147 ff.).
Nicht gemeinschaftliche Angelegenheiten im Sinne des Artikels 7 sind nur die
Besteuerung des Bieres für Bayern, Württemberg und Baden (srüher
auch die Besteuerung des Branntweins), Reichsverfassung Artikel 35, Abf. 2,
Artikel 38, letzter Absatz, ferner das Eisenbahnwesen in den Fällen der Artikel
42—45 der Reichsverfassung für Bayern (vgl. Artikel 46, Absf. 2), sodann das
Postwesen für Bayern und Württemberg, soweit ihnen die Postverwaltung
geblieben ist (vgl. Artikel 52, Abs. 1 der Reichsverfassung), endlich für Bayern
das Immobiliarversicherungswesent, die Heimaths= und Nieder-
lassungsverhältnisse und die polizeilichen Beschränkungen der
Eheschließung (dgl. Reichsverfassung Artikel 4, Nr. 1, und Vertrag mit
Bayern vom 23. November 1870, R.-G.-Bl. 1871, S. 9) unter III. Ebenso
Seydel, Comm., 2. Aufl., S. 148, Laband, Reichsstaatsrecht, I. S. 230,
Zorn, Reichsstaatsrecht, I., S. 4385, Arndt, Komm. zur Reichsverfassung,
S. 119f.
Die Beschlußfassungen im Bundesrathe erfolgen, wo nicht Ausnahmen durch
die Reichsverfassung bestimmt find, nach der Vorschrift in Artikel 7, Abs. 3 der
Reichsverfassung mit einfacher Mehrheit. Nicht vertretene oder nicht instruirte
Stimmen werden dabei nicht gezählt. Eine bestimmte Anzahl von Stimmen ist
zur Beschlußfähigkeit des Bundesraths nicht vorgeschrieben. Die Mehrheit ist die
absolute, nicht die relative. Die Vorschrift des ehemaligen Bundesrechtes, daß
fehlende oder nicht instruirte Stimmen zur Ergänzung der Mehrheit oder Ein-
stimmigkeit hinzugerechnet werden (oben S. 93), ist der Reichsverfassung fremd.
Von der Vorschrift, daß die einfache Mehrheit der vertretenen und instruirten
Stimmen genügt, giebt es drei Ausnahmen:
1) Beschlüsse über Aenderungen der Reichsverfassung gelten als abgelehnt,
wenn sie im Bundesrathe 14 Stimmen gegen sich haben (Artikel 78, Abs. 1 der
Reichsverfassung und weiter unten). Beschlüsse über Auslegung der Reichs-
verfassung (val. auch Artikel 7, Ziff. 38 der Reichsverfassung) bedürfen nur der einfachen
Mehrheit. Folglich wird die Vorfrage, ob ein Beschluß eine Verfassungsänderung
zum Gegenstande habe, mit einfacher Mehrheit im Bundesrathe zu entscheiden sein;
1 Schlußprotokoll Nr. IV zum Bertrage im norddeutschen Neichstage, Verhdl. II. außer-
23. November 1870 mit Bayern (B.-G.-Bl. 1871, ordentliche Session 1870, S. 81 ff.
S. 9); s. hierzu Lasker am 6. December 1870