96 Drittes Buch. Die Organisation des Deutschen RNeiches.
ebenso Laband, Reichsstaatsrecht, I. S. 246, Hänel, Staatsrecht, I. S. 258 ff.,
G. Meyer, Staatsrecht, § 163, Anm. 10, v. Rönne, Reichsstaatsrecht, II, I,
S. 35; anderer Meinung Seydel, Comm., 2. Aufl., S. 146. Die einfache
Mehrheit hielt in einem solchen Falle auch der Abgeordnete Miquel in der
Reichstagssitzung am 13. Juni 1873 (Sten. Ber. S. 1126) für ausreichend,
während Windthorst damals in einem solchen Falle Einstimmigkeit für er-
forderlich erklärte (das. S. 1126). Die Auffassung, daß die einfache Mehrheit
zur Entscheidung der Vorfrage, ob eine Verfassungsänderung vorliegt, genügt,
herrscht auch in allen parlamentarischen Körperschaften, z. B. im preußischen Ab-
geordnetenhause.
2) Ein Bundesrathsbeschluß über eine Verfassungsvorschrift, „durch welche be-
stimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Verhältniß zur Gesammtheit fest-
gestellt find“, kann nur mit Zustimmung des berechtigten Bundesstaates gefaßt
werden (Artikel 78, Abs. 2 der Reichsverfassung). Ein solcher Beschluß ist also
nur dann gültig, wenn die Stimme des berechtigten Bundesstaates in der Mehrheit
enthalten ist; s. weiter unten.
3) In gewissen Fällen gehört zur Gültigkeit eines Bundesrathsbeschlusses, daß
die Präsidialstimme in dieser Mehrheit enthalten ist, nämlich bei Gesetzes-
vorschlägen, die eine Aenderung im Militärwesen, der Kriegsmarine und der in
Artikel 35 bezeichneten Abgaben bezwecken (Artikel 5, Abs. 2 der Reichsverfassung),
und bei Aenderung der „Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen“, welche zur
Ausführung der im Artikel 35 bezeichneten Gesetzgebung dienen.
Praktisch nicht rechtlich stehen diesen Ausnahmen die Fälle gleich, in denen die
Verfassung oder ein Gesetz eine Anordnung, z. B. die Auflösung des Reichstages
(Reichsverfassung Artikel 24), oder die Inkrafterklärung von Gesetzen, z. B. der
Reichsjustizgesetz vom Jahre 1877, vom Kaiser unter Zustimmung des Bundesrathes
treffen läßt 2.
Die „Präsidialstimme“ ist stets die Stimme Preußens, da Preußen
auch dann das Präsidium im Reiche führt, wenn sich der Reichskanzler durch ein
bayerisches Bundesrathsmitglied im Vorsitze des Bundesraths vertreten läßt;
ebenso Seydel, Commentar, S. 147, Laband, Reichsstaatsrecht, I. S. 240;
anderer Ansicht R. v. Mohl, Deutsches Reichsstaatsrecht, S. 236.
„Bundesrathsbeschluß“ ist in der Sache ein Beschluß der verbündeten
Regierungen, der durch deren Vertreter im Bundesrathe gefaßt ist. Deshalb und
da die Reichsverfassung über die Form, in der, und den Ort, an dem Bundesraths-
beschlüsse zu fassen find, keine Vorschriften trifft, steht verfassungs= und staatsrecht-
lich nichts im Wege, daß die Bundesregierungen selbst auf schriftlichem Wege (auch
telegraphisch) unmittelbar beschließen. Dies wird namentlich in eiligen Fällen
stattfinden, wo der Bundesrath nicht versammelt oder die Bundesrathsmitglieder
noch nicht instruirt find. Ein solcher Fall liegt der Kaiserlichen Verordnung, be-
treffend das Verbot der Ausfuhr von Pferden vom 4. März 1875 (R.-G.-Bl.
1875, S. 159), zu Grunde. Für die Statthaftigkeit dieses Verfahrens spricht
sich auch Seydel, Comm., S. 145 f., dagegen Hänel, Deutsches Staatsrecht, 1,
S. 248 ff., aus.
Der Bundesrath ist nicht kraft der Reichsverfassung permanent, wie es der
ehemalige deutsche Bundestag war. Der Bundesrath kann sich nicht von selbst
versammeln, sondern nur durch den Kaiser berufen und eröffnet werden. Der
Kaiser kann ihn vertagen und schließen gemäß Artikel 12 der Reichsverfassung:
„Dem Kaiser steht es zu, den Bundesrath und den Reichstag zu berufen, zu er-
öffnen, zu vertagen und zu schließen.“ Es steht nichts im Wege, wenn sich die
Mitglieder des Bundesraths ohne kaiserliche Berufung alle oder einzeln versammeln,
Vorbesprechungen halten, schriftliche oder mündliche Abmachungen treffen; Bundes-
rath im Sinne der Reichsverfassung sind sie alsdann nicht, ihre
1 Die Geschäftsordnung des Bundesrathes zieht ihn zu den drei besprochenen Ausnahmen;
erwähnt von diesen Fällen nur den einen in vgl. hierzu Laband, Reichsstaatsrecht, I. S. 247,
Artikel 24 der Reichsverfassung behandelten und und Hänel, Studien, 1I, S. 40 ff.