Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

126 Drittes Buch. Die Organisation des Dentschen Reiches. 
Wahlprüfung. 
Der Reichstag prüft (Artikel 27 der Reichsverfassung) die Legitimation seiner 
Mitglieder und entscheidet darüber. Diese Entscheidung ist endgültig. Indeß be- 
schränkt sie sich darauf, ob der als gewählt Verkündete als Reichstagsmitglied an- 
zuerkennen ist. Der Reichstag hat daher zwar alle Theile der Wahlhandlung zu 
prüfen und kann darüber Erhebungen anstellen lassen; er kann aber nicht Theile 
der Wahlhandlung wegen Ungültigkeit wiederholen lassen; er kann solche Theile für 
ungültig in dem Sinne erachten, daß er die darin abgegebenen Stimmen als nicht 
abgegeben rechnen, und wenn dies auf die Wahl Einfluß haben könnte, die Wahl 
für ungültig erklären darf. Er kann aber nicht einen anderen als den verkündeten 
Abgeordneten selbst als Abgeordneten proclamiren oder proclamiren lassen (vgl. 
Arndt, Komm., S. 156, Seydel, in Hirth's Annalen 1880, S. 3983, und 
Commentar, 2. Aufl., S. 207f., Laband, J, S. 298). Er kann auch nicht eine 
Stichwahl mit anderen Kandidaten wiederholen lassen (Seydel, Comm., S. 208). 
Um die Gültigkeit einer Wahl festzustellen, kann der Reichstag nicht unmittelbar 
Gerichte oder Polizeibehörden um Zeugenvernehmungen oder andere Erhebungen 
ersuchen. Vielmehr hat er die Vermittelung der Reichsregierung (des Reichskanzlers) 
anzurufen. Ein Zeugnißzwang besteht für diese Zwecke insoweit nicht (Seydel, 
Comm., S. 208), als Jeder, da die Wahl geheim ist, sein Zeugniß darüber, wen 
er gewählt hat, verweigern kann, wenn es sich dabei um Gültigkeit der Wahl 
handelt 1. Der Reichstag hat das Recht, Erhebungen anstellen zu lassen auch nur 
zu dem Zwecke, um über die Gültigkeit einer Wahl entscheiden zu können. Nach 
erfolgter Gültigkeits= oder Ungültigkeitserklärung oder zu anderen Zwecken steht ihm 
ein solches Recht nicht zu (vgl. Erklärungen des Reichsstaatssekretärs v. Bötticher 
am 13. Juni 1890, Sten. Ber. des Reichstages 1890, S. 317 ff.). 
Behufs Prüfung der Wahlen wird jeder Abtheilung im Reichstage eine mög- 
lichst gleiche Anzahl der Wahlverhandlungen durch das Loos zugetheilt (Geschäfts- 
ordnung für den deutschen Reichstag § 3). Wahlanfechtungen, zu denen jeder zur 
Reichstagswahl Berechtigte befugt ist?, und von Seiten eines Reichstagsmitgliedes 
erhobene Einsprachen, welche später als zehn Tage nach Feststellung des Wahl- 
ergebnisses erfolgen, bleiben unberücksichtigt (§ 4 daselbst). Wahlverhandlungen 
find, wenn 19 eine rechtzeitig erfolgte Wahlanfechtung oder Einsprache vorliegt, 
oder 2) von der Abtheilung die Gültigkeit der Wahl durch Mehrheitsbeschluß für 
zweifelhaft erklärt wird, oder 3) zehn anwesende Mitglieder der Abtheilung einen 
aus dem Inhalte der Wahlverhandlungen abgeleiteten, speciell zu bezeichnenden Zweifel 
gegen die Gültigkeit der Wahl erheben, an eine besondere Wahlprüfungskommission 
abzugeben (§ 5 daselbst). Findet die Abtheilung sonstige erhebliche Ausstellungen, 
ohne daß die Voraussetzungen für die Abgabe an die Wahlprüfungskommission vor- 
liegen, so ist von der Abtheilung an den Reichstag Bericht zu erstatten (§ 6 daselbft). 
Wahlen, bei denen keiner der in §§ 5 und 6 der Geschäftsordnung für den Reichs- 
tag bezeichneten Fälle vorliegt, werden vom Präsidenten nachrichtlich zur Kenntniß 
des Reichstages gebracht und, wenn bis dahin der zehnte Tag noch nicht verflossen, einst- 
weilen als gültig betrachtet, nach Ablauf der zehntägigen Frist sind fie definitiv 
gültig (ebendaselbst § 7). Die Entscheidung über die Gültigkeits= oder Ungültigkeits= 
erklärung einer Wahl geschieht im Plenum, wenn und nur wenn die Wahlprüfung 
an dieses durch die Wahlprüfungskommission gebracht worden ist. Bei Stimmen- 
gleichheit ist die Wahl für ungültig anzusehen (Seydel, in Hirth's Annalen 
1880, S. 396, Anm. 4). Es ist fraglich, ob der Reichstag nach Ablauf der An- 
fechtungsfrist oder selbst nach der Gültigkeitserklärung einer Wahl in der Wahl- 
prüfungskommission oder vom Plenum noch befugt ist, Wahlen, deren Ungültigkeit 
sich später evident herausstellt, zu annulliren. Diese Frage wird durch die Geschäfts- 
ordnung des Reichstages — § 7 — verneint. Indeß ist der Reichstag durch 
keine ihn zwingende Vorschrift daran gehindert, solche Wahlen für ungültig zu 
  
1 Nicht aber wenn es sich um die rage 2 Reichstagsbeschluß vom 18. März 1892, 
handelt, ob eine Fälschung begangen ist. Laband, Reichsstaatsrecht, I. S. 294.
	        
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