8 W. Die Rechte des deutschen Reichstages. 135
festgesetzt worden. Dieser Zeitraum wurde deshalb gewählt, weil die am 27. Juli
1849 erwählte erste Kammer auf den 7. August 1852 zusammenberusen war und
die Rechtsansicht zur unbestrittenen Geltung kam, daß deshalb der Anfangstermin
der beiden am 7. August zu einer neuen Legislaturperiode zusammengetretenen Kammern
von diesem Tage an und nicht von dem der Wahl anhebt. Nach diesem wichtigen
Präcedenz ist es auch nicht in Zweifel gekommen, daß die beiden Häuser des Land-
tages der Legislaturperiode 1855 bis 1858, welche am 12. November 1855 zu
einer neuen Legislaturperiode zusammengetreten waren, ein vollkommen gültiges
Mandat für den auf den 20. October 1858 berufenen außerordentlichen Landtag
und dessen Zweck, die Nothwendigkeit der Regentschaft anzuerkennen, besaßen, obwohl
die Wahlen bereits am 12. October 1855 stattgefunden hatten. Die durch
diese Vorgänge, namentlich bei so wichtiger Veranlassung, thatsächlich festgestellte
Rechtsübung ist auch für alle späteren Fälle bei der Berechnung der Legislatur-
periode maßgebend geworden.“ Auch hat, und zwar noch nach der Bemerkung in
den Motiven zum Reichstags-Wahlgesetze vom Jahre 1869, das gesammte preußische
Staatsministerium in dem Immediatberichte vom 4. October 1873, betreffend die
demnächst durch Verordnung vom 5. October 1873 erfolgte Auflösung des Ab-
geordnetenhauses, diese Rechtsansicht ausdrücklich festgehalten und darin wörtlich
angeführt: „Das gegenwärtige Haus der Abgeordneten ist am 14. December 1870
zum ersten Mal zusammengetreten. Nach Art. 73 der Verfassungsurkunde erlischt
deshalb das Mandat desselben mit dem 14. December 18783“ (Deutscher Reichs-
und Preußischer Staats-Anzeiger, Jahrgang 1873, Nr. 289). Diese Auffassung
der preußischen Staatsregierung hat übrigens von keiner Seite Widerspruch erfahren.
Wenn nun einerseits in Bayern durch ausdrückliche Königliche Verordnung vom
28. Februar 1863 (Bayer. Reichsgesetzbl. 18638, S. 199) der Beginn der Legis=
laturperiode auf den Tag der Wahl festgesetzt ist (vgl. Seydel, Bayer. Staats-
recht, II, S. S. 166), und andererseits der Wortlaut der preußischen Verfassung
trotz ihrer wohlbekannten Praxis anstandslos und ohne Aenderung von der Reichs-
verfassung übernommen worden ist, so spricht auch dies dafür, daß der Reichsgesetz-
geber den Beginn der Legislaturperiode vom Tage des Zusammentretens rechnen
lassen wollte.
Herrfurth in seinem vorcitirten Aufsatze hat sich der hier vertretenen An-
sicht mit einer neuen Begründung angeschlossen, nämlich mit der, daß die Wahl
des neuen Reichstages vor Ablauf der Legislaturperiode des alten erfolgen könne,
für welchen Fall es zweifellos sei, daß die Legislaturperiode der Neugewählten
nicht mit dem Tage ihrer Wahl beginnen könne. Alsdann exemplificirt Herr-
furth auf die im Voraus als künftige defignirten Stadtvertreter in Preußen.
Welcher Werth dieser Argumentation beizulegen ist, mag dahingestellt bleiben. Für
das preußische Staatsrecht trifft sie in keinem Falle zu, da nach Artikel 75 der
Preußischen Verfassungsurkunde die Kammern erst „nach Ablauf ihrer Legislatur-
periode“ neu gewählt werden dürfen. Entscheidend bleibt vielmehr, daß die Ver-
saffungsurkunden im Reiche und in Preußen nicht von Wahl-, sondern von
Legislaturperiode sprechen, letztere aber erst vom Zusammentreten des Parla-
ments gerechnet werden kann, da ohne Einberufung und Zusammentreten die Ge-
wählten kein Parlament und keine gesetzgebende Körperschaft bilden.
Auflösung.
Durch den zweiten Satz in Artikel 24 der Reichsverfassung ist dem Bundesrath
das Recht gegeben, den Reichstag auch während der Dauer der Legislaturperiode
aufzulösen. Der Beschluß muß unter Zustimmung des Kaisers erfolgt sein und
erscheint daher (siehe weiter unten) in der Form einer Kaiserlichen, nach erfolgter
Zustimmung des Bundesrathes erlassenen, im Reichsanzeiger bekannt gemachten
Verordnung. Da nach dem Wortlaute des Artikel 24 die Auflösung des Reichs-
tages ganz allgemein „während derselben“, nämlich während der Legislaturperiode,
statthaft ist, so kann auch ein nicht versammelter Reichstag aufgelöst werden