140 Drittes Buch. Die Organisation des Deutschen Reiches.
dammer's Archiv Bd. XIV. S. 210) an, daß sich diese in Artikel 84 ertheilte
Straffreiheit nur auf die ausgesprochenen Meinungen als Resultate des Denk-
vermögens, nicht auch auf die Behauptung und Verbreitung von Thatsachen be-
ziehe. Das Abgeordnetenhaus erklärte diesen Plenarbeschluß am 10. Februar 1866
(Sten. Ber. S. 1107) für verfassungswidrig. Die Fassung in Artikel 30 soll nach
der Absicht des Reichstages eine derartige Auslegung, wie sie das Obertribunal
vorgenommen hat, ausschließen. Jede Aeußerung, die ein Reichstagsabgeordneter
in seinem Berufe als Abgeordneter thut, soll straflos sein und ist nach Artikel 80
straflos. Auch das Sitzenbleiben beim Kaiserhoch auf die Aufforderung des Präfi-
denten zum Aufstehen gilt in diesem Sinne als eine Aeußerung (Sten. Ber. des
Reichstages 1894, S. 7 f., 137 ff., Seydel, Comm., S. 212). Thätlichkeiten
find dagegen nicht straffrei, da sie über den Begriff Aeußerungen hinausgehen
(Arndt, Komm. zur Reichsverfassung, S. 158, Seydel, Comm., S. 212, Bin
ding, Strafrecht, I. S. 675 f.).
Die Straffreiheit beschränkt sich nicht bloß auf die Thätigkeit im Plenum, sondern
erstreckt sich auch auf die Thätigkeit in den Kommissionen, nicht aber auf die
Thätigkeit außerhalb des Reichstages, also nicht auf Wahlversammlungen, Rechen-
schaftsberichte u. dergl., insbesondere auch nicht auf Wiederholung von Aeuße-
rungen, die außerhalb des Reichstages geschehen. Die Straffreiheit besteht auch
nicht für bloß gesprächsweise Mittheilungen, die ein Abgeordneter zwar im Parla-
mente, aber nicht in Ausübung seines Berufes macht; zu vergl. Erkenntniß des
Obertribunals vom 13. October 1862 in Goltdammer's Archiv, Bd. XIII,
S. 62. Regierungsvertreter haben diese Immunität nicht (Oppenhoff, Straf-
gesetzbuch, Comm. zu § 11, Anm. 2, Olshausen, Comm. zum Strasgesetzbuch,
S. 80). Ob die Aeußerungen mündlich oder schriftlich erfolgen, ist unerheblich.
Da der Abgeordnete außerhalb des Reichstages wegen der von ihm in Ausübung
seines Berufes im Reichstage gethanen Aeußerungen nicht zur Rechenschaft gezogen
werden darf, so ist auch eine Compensation gegen solche Aeußerungen, die an sich
Beleidigungen enthalten, unstatthaft (Erkenntniß des Reichsgerichts vom 5. März
1881, Entsch. in Strafsachen, Bd. IV, S. 14). Wohl aber kann die Thatsache,
daß ein Abgeordneter in seinem Berufe als solcher eine beleidigende Aeußerung ge-
than hat, behufs Anwendung des § 193 des Strafgesetzbuchs auf eine als Er-
widerung dienende beleidigende Aeußerung eines Anderen berücksichtigt werden (Er-
kenntniß des Reichsgerichts vom 23. Februar 1882 in der Rechtsprechung des
Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. IV, S. 188, Arndt, Komm., S. 158, Ols-
hausen, Comm,. zum Strafgesetzbuch, S. 81, Schwartz, Comm. zur Preuß. Verf.,
S. 244; vgl. auch Binding, Strafrecht, I. S. 676).
Ein Recht, Zeugniß über einen im Reichstag zur Sprache gebrachten Gegen-
stand zu verweigern, ist dem Reichstagsabgeordneten weder durch die Reichs-
verfassung, noch in den §§ 51 bis 55 der Strafproceßordnung verliehen worden
(Arndt, Komm. zur Reichsverfassung, S. 158, Seydel, Comm., S. 212,
Laband, I, S. 315, Anm. 3, Binding, Strafrecht, I. S. 673, Altsmann,
im Archiv f. öffentl. Recht, Bd. I, S. 589 ff.; anderer Ansicht Fuld, im Archiv f.
öffentl. Recht, Bd. IV. S. 344, und in Hirth's Annalen 1888, S. 6 ff.; vgl.
auch Sten. Ber. des Reichstages 1885/86, S. 1399 ff., Sitzung vom 10. März 1886).
Innerhalb des Reichstages unterliegt der Abgeordnete der Disciplin des
Hauses. Ueber den Umfang dieser Disciplin enthält die Verfassung nichts; da fie
indeß in Art. 27 dem Reichstage ohne Einschränkung überläßt, sich selbst seine
Disciplin durch eine Geschäftsordnung zu regeln, so muß hieraus gefolgert werden,
daß dem Reichstage auch das Recht zustehen muß, in seiner Geschäftsordnung vor-
zuschreiben, ob, wie lange und in welchen Fällen ein Mitglied von der Theilnahme
an den Sitzungen ausgeschlossen werden soll. Anderenfalls, und zumal da andere
Staaten (Frankreich, England) ihren gesetzgebenden Körperschaften ähnliche
Befugnisse einräumen, hätte die Reichsverfassung keine allgemeine Befugniß zum
Erlasse der Geschäftsordnung und zur Regelung der Disciplin aufstellen dürfen,
noch aufzustellen nöthig gehabt. Der Reichstag ist indeß vorerst noch nicht bis an
die Grenze seiner Befugnisse gegangen. In seiner Geschäftsordnung befassen sich