Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

190 Biertes Buch. Die Gesetzgebung des Deutschen Reiches. 
Nach diesen Erklärungen kann kein Zweifel daran bestehen, daß unter den 
Verfassungsänderungen — und sogar in erster Linie — auch Zuständigkeits- 
erweiterungen verstanden wurden. Das wird auch noch bewiesen durch die Er- 
klärungen, welche bei Berathung der Reichsverfassung in den süddeutschen Staaten 
abgegegeben find durch den Berichterstatter Eckhardt am 16. December 1870 in 
der zweiten badischen Kammer (Bezold, Materialien, III, S. 376 f.) und durch 
Bluntschli am 19. December 1870, den Berichterstatter in der ersten badischen 
Kammer (Bezold, Materialien, III, S. 403 ff.). Bei der Berathung in der 
zweiten württembergischen Kammer erkannte die Competenz-Competenz Moritz 
Mohl an (Bezold, III, S. 520): „— wir find freilich nicht dagegen gefeichert, 
daß nicht im Wege der Kompetenzerweiterung die Civilgesetzgebung des Bundes 
doch noch auf alle Theile des bürgerlichen Rechtes ausgedehnt werde“; desgleichen 
Oesterlen (Bezold, II, S. 532): „— unsere Regierung hat — einer zum 
mindesten bestrittenen, von den Anhängern der unitarischen Richtung festgehaltenen 
Auslegung zugestimmt, daß eine Kompetenzausdehnung durch den Bundesrath und 
den Reichstag in der für Abänderung der Verfassung vorgeschriebenen Weise er- 
solgen könne —.“ Ihm trat insoweit bei der Minister v. Mittnacht (Bezold, 
III. S. 542): „Im Uebrigen gehen nunmehr alle kontrahirenden Theile davon aus, 
daß unter den Veränderungen der Verfassung, die der jetzige Art. 78 der Bundes- 
verfassung, auch Kompetenzerweiterungen zu verstehen find — —.“ In der zweiten 
bayerischen Kammer begründete mit der gleichen Auffassung über Art. 78, Abfs. 1 
der Berichterstatter Dr. JZörg am 11. Januar 1871 den Antrag auf Ablehnung 
der Versailler Verträge (Bezold, III, S. 603 ff.). Ihm folgte als Redner 
R. Barth, der u. A. sagte (Bezold, III, S. 6283): „Der Herr Kammersekretär 
hat zu den Bedenken — noch eine Aeußerung des Abgeordneten Twesten an- 
geführt, in welcher dieser eine allerdings nicht unwesentliche Unterscheidung machte, 
nämlich zwischen Verfassungsänderungen, die nur die Organisation betreffen, 
und solchen, welche die Kompetenz des Bundes betreffen, und in welcher 
er„, wohlverstanden zur Zeit des konstituirenden Reichstages, als es sich noch 
de lege ferenda handelte, die Meinung aufstellte, es sei zweckmäßig, daß zu einer 
solchen Aenderung alle Gesetzgebungsfaktoren in den Einzelstaaten des Bundes 
mitwirken müssen. Ich gebe nun zu, diese Meinung ist nicht ohne Berechtigung, 
aber das läßt sich jetzt nicht mehr erreichen. Einmal ist die Praxis im Nord- 
deutschen Bunde bisher schon eine andere gewesen, indem verschiedene Kompetenz- 
Erweiterungen durch Majoritätsbeschlüsse getroffen worden sind. Sodann folgt 
auch aus der Erklärung, welche die Bayerische Regierung in den Bayerischen 
Vertrag hat aufnehmen lassen, nämlich, daß in Bezug auf die Bayerischen Sonder- 
rechte ohne ihre Mitwirkung und ohne ihre Zustimmung eine Aenderung nicht 
getroffen werden könne, e contrario, daß das nicht auf andere Kompetenz- 
veränderung Anwendung finde !.“ Der Staatsminister v. Lutz erklärte am 
16. December 1871 in der bayerischen Kammer der Abgeordneten: „Sie erinnern 
sich, daß früher im Norddeutschen Bunde eine Controverse darüber bestanden hat, 
ob zur Kompetenzerweiterung jeder einzelne Landtag wieder zustimmen müsse. Es 
war nicht einmal, sondern zehn= und zwanzigmal bei den Verhandlung in Ver- 
sailles — davon die Rede, daß diese Controverse aus der Welt geschafft werden 
müsse, und nicht die Bayerische Vertretung allein, sondern auch die Vertreter aller 
anderen Staaten konnten sich schließlich der Ueberzeugung nicht entziehen, daß es 
für die Folge nicht mehr auf die alte Controverse ankommen könne, sondern daß 
diese beseitigt werden müsse, und zwar in dem Sinne, daß das Reich kraft seiner 
Legislative berechtigt sei, auf Grund der Abstimmungen im Bundesrath und 
Reichstag — über Verfassungsänderungen und in Sonderheit auch über Kompetenz- 
erweiterungen zu beschließen.“ 
Schließlich ist hierbei noch anzuführen, daß, wo Gesetz und Verfassungen nicht 
unterscheiden, es unstatthaft sein würde, durch Interpretation Unterscheidungen 
– 
  
1 Seydel, Comm., S. 417.
	        
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