ß 26. Erschwerte Gesetzgebung u. s. w. 191
zwischen den verschiedenen Arten der Verfassungsänderungen zu machen. Da nun
Art. 78 ganz allgemein von Aenderungen der Verfassung spricht, so ergiebt sich
nach dieser allgemeinen Interpretationsregel daraus, daß alle Arten der Ver-
saffungsänderungen, also auch Zuständigkeitserweiterungen, unter Art. 78 mit zu
begreifen find. Dies kann als die unbestrittene Praxis gelten, wie dies u. A. das
Gesetz, betr. einen Zusatz zu dem Art. 4, Nr. 9 der Reichsverfassung vom
3. März 1873 (R.-G.-Bl. 1873, S. 47), Gesetz, betr. die Abänderung der Nr. 13
des Art. 4 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 20. Dezember 1873 (R.-G.-Bl.
1873, S. 379) ergeben.
Eine fernere Streitfrage betrifft die Form der Abänderung der Reichs-
verfassung, nämlich ob ein Specialgesetz, welches sachlich die Verfassung ändert, erst
dann erlassen werden darf, wenn zuvor die Verfassung auch formell eine ent-
sprechende Aenderung erfahren hat, oder ob ein solches Specialgesetz wenigstens
gleichzeitig mit dem die Verfassung abändernden generellen Gesetz berathen werden
muß, und ob das die Verfassung ändernde Specialgesetz ausdrücklich als ein die
Verfassung abänderndes bezeichnet werden muß. Die Preußische Verfassung, welche
Aenderungen ihres Inhaltes auf dem ordentlichen Wege der Gesetzgebung (unter
Ausschluß der Nothverordnung) in Art. 107 gestattet, ist von der preußischen
Praxis dahin ausgelegt worden, daß eine jede Verfassungsänderung rechtlich als
gültig erachtet werden muß, wenn sie unter Beobachtung des Art. 107 beschlossen
worden ist 1. Hiernach ist insbesondere bei Annahme der Norddeutschen Bundes-
verfassung, als preußischen die Preußische Verfassung abändernden Landesgesetzes
verfahren, und es ist in dem Publications-Patente vom 24. Juni 1867 (G.-S.
1867, S. 817) diese Aenderung der Verfassung nicht einmal erwähnt worden. Die
gleiche Praxis gilt im Deutschen Reiche. Sie muß als richtig gelten, weil
Art. 78, Abs. 1 weiter nichts zu einer Abänderung der Verfassung fordert als ein
Neichsgesetz, gegen welches im Bundesrathe nicht 14 Stimmen votirt haben.
Es kann auch nicht zugegeben werden, daß, wie vielfach behauptet wird, die
Praxis eine verkehrte sei, und daß der Begriff und die Würde der Verfassung eine
ganz besondere solenne Form und außergewöhnliche Erschwernisse für Aenderungen
verlangen. Es kommt dabei lediglich auf den Willen und die Selbsteinschätzung
der Urheber am Verfassungswerke an. Wenn fee sich eine viel größere Weisheit
und Voraussicht als ihren Nachfolgern beilegen, können sie einen solchen Stand-
punkt aufstellen; wenn sie dagegen der (zweifellos richtigeren) Ansicht sind, daß
jede Zeit ihr besonderes Recht fordere, und daß auch der spätere Gesetzgeber freie
Hand haben müsse, werden sie sich auf den Boden der Preußischen und der Reichs-
verfassung stellen und nichts Außergewöhnliches für Verfassungsänderungen vor-
schreiben. Uebrigens ergeben die Reichstagsverhandlungen, namentlich die Reden
des Abgeordneten Wagener (Neustettin) im verfassungsberathenden norddeutschen
Neichstage 8 und des hesfischen Bevollmächtigten Hofmann“, daß die „zu formale
Auffassung der Sache“, es müsse zuvor die Verfassungsurkunde geändert werden,
ehe ein verfassungsänderndes Gesetz berathen und beschlossen werden kann, auf keiner
Seite bestanden hat. Es ist aus diesen Gründen auch nicht verfassungsmäßig ge-
boten, daß irgendwie im Gesetzestext oder in der Ausfertigungsformel" die Art der
Abstimmung, insbesondere das Genügen der Vorschrift in Art. 78 zum Ausdruck
gebracht werden muß. In einzelnen Fällen hat der Bundesrath Auskunft darüber
ertheilt, ob seine Abstimmung der Vorschrift in Art. 78 genügte.
Es fragt sich nun, wer zu entscheiden hat, ob die Abstimmung des Bundes-
raths dieser Vorschrift genügte, namentlich ob ein Fall einer Verfassungsänderung
1 Arudt, Komm. zu Art. 107 der Preuß.] S. 2900 ff.; anderer Ansicht G. Meyer, Staats-
Verf., S. 177, Schwarß, Comm., S. 338, recht, § 164, auch Hänel, S. 255, Anm. 6.
S galze Preuß. Staatsr., Bd. II, § 177, 2 Sten Ber. S. 318, oben S. 187.
S. ornhak, Preuß. Staatsr., Bd. I, 4 Sten. Ber. S. 319, oben S. 187.
S. *5 und v. Stengel, Preuß. Staatsr., 6 Siehe Gesetz vom 21. Juli 1870 (B.-G.-Bl.
S. 171. 1820, S. 498) „nach erfolgter verfassungsmäßiger
1 S. Laband, I, S. 523, Seydel, Comm., Zustimmung des Bundesrathes ..: f. auch
S. 418 f., Arndt, Komm. z. Reichsverfassung, Hänel, Staatsrecht, I. S. 790.