Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

§ 2. Begriff und Arten der Verwaltung. 209 
Der größte Theil der Thätigkeit der Verwaltungsbehörden, soweit er wenigstens 
die Ausübung von Staatshoheitsrechten betrifft und nicht etwa den Abschluß von 
Rechtsgeschäften für Rechnung des Staates anlangt, ist genau ebenso Gesetzes- 
anwendung und Gesetzesauslegung wie bei den Gerichtsbehörden. Ebenso wie der 
Unterschied zwischen Justiz und Verwaltung ein formaler ist, wie er sich nur her- 
leitet aus der Verschiedenheit in der Organisation der Justiz= und der Ver- 
waltungsbehörden, find auch die Unterschiede zwischen der Verwaltung und der 
Gesetzgebung formaler Natur. Man kann nämlich nicht sagen, daß es die Ver- 
waltung mit der Anwendung, die Gesetzgebung dagegen mit der Aufstellung 
abstracter (Rechts-) Normen zu thun hat. Die Verwaltung stellt (meist auf Grund 
Delegation von Seiten des Gesetzgebers) unzählige Rechtsnormen auf, welche, wenn 
auch nicht an materieller Bedeutung, so doch in Bezug auf die Menge die in ge- 
setzlicher Form erlassenen Vorschriften ganz außerordentlich hinter sich lassen. Man achte 
auf die fast unübersehbare Zahl von Schulregulativen, Prüfungsvorschriften, Uni- 
dersitäts= und Facultätsstatuten, Promotionsordnungen, die Regulative der Zoll- 
und Steuerbehörden, die Post-, Telegraphen-, Verkehrsordnungen, die Verordnungen 
und Anweisungen zur Ausführung des Gewerberechts und das unerschöpflich sich 
neu gebährende Heer der Polizeivorschriften! Andererseits haben die gesetzgebenden 
Körperschaften nicht bloß Rechtsregeln aufzustellen, sondern auch die vorhandenen 
anzuwenden, z. B. bei der Etatsfestsetzung. 
Der Sprachgebrauch erklärt sich aus der Lehre von der Trennung der 
Gewalten, welche mehr oder minder vollständig dem modernen Staatsrecht zu 
Grunde liegt. Man wende gegen diese Lehre nicht ein, daß die Staatsgewalt eine 
eine und untheilbare sei! Dies mag richtig sein, die Trennung der Gewalten 
bedeutet aber nur, daß die Staatsgewalt, je nachdem es sich um Gesetzgebung, Justiz 
oder Verwaltung handelt, von verschiedenen Stellen ausgeübt werden soll. Diese 
Lehre ist zum Schutze der individuellen Freiheit aufgestellt und durchgeführt worden. 
Montesquien, Esprit des lois, livre XI, chap. 6: „Lorsque dans la méme per- 
sonne ou dans le méme corps de magistrature, la puissance LIégislative est 
réunie à la puissance exécutrice, il n’# a point de liberté; parce qu'’on peut 
c#mindre qdue le meme monarque, ou le méme sénat ne fasse des lois tiranniques 
pour les exécuter tiranniquement. II ’y a point encore de liberté, si la puissance 
de juger n’est pas séparée de la puissance Iégislative et de Pexécutrice. 8i elle 
(tdit jointe à la puissance Législative, le pouvoir sur la vie et la liberté des 
citoyens serait arbitraire, car le juge serait Iégislateur. Si elle était jointe à la 
puissance exécutrice, le juge pourrait avoir la force d’'un oppresseur 1.“ Aehnlich 
James Madison, Präsident der Vereinigten Staaten, in The Federalist 
Ar. 47: „The accumulation of all powers, legislative, executive, and jodiciary, 
in the same hands, whether of one, of few, or many and whether hereditary, 
self- appointed, or elective, may justly be pronounced the very definition of 
Wrannyy.“ Diese Theorie, die besonders noch von Blackstone, Commentaries of 
English law, I, 146, Kent, Commentaries on American law, part II, lecture XI, 
Story, Commentaries on the Constitution of the United States, 1, §§ 518—544, 
dertreten wird, ist bewußter und erklärter Maßen zur Beschränkung der Executiv= 
gewalt ausgestellt worden. Das Staatsoberhaupt soll nicht mehr, wenigstens nicht 
nehr allein, Straf-, Steuer-, Militärgesetze ausschreiben, noch von der Befolgung 
der Gesetze entbinden; es soll auch nicht mehr in die Justiz eingreifen, namentlich 
nicht Jemanden seinem ordentlichen Richter entziehen oder Gerichtssprüche aufheben. 
Andererseits ist gewiß, daß die gesetzgebenden Körperschaften auch Verwaltungs- 
geschäfte besorgen, z. B. Eisenbahnen an= und verkaufen dürfen, daß sie zuweilen 
(. B. in England das Oberhaus) auch richterliche Thätigkeit ausüben, daß ferner 
die Verwaltungsbehörden auch Rechtsnormen aufstellen, z. B. Polizeiverordnungen 
erlassen. Das Entscheidende ist nicht der Gegenstand, sondern das Subject 
— 
  
1 Siehe auch Montesquien, Contrat social, chap. XVI. 
Arndt, Das Staatsrecht deß Deutschen Reiches. 14
	        
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