246 Fünftes Buch. Die Verwaltung des Innern.
welche Reichsbehörden wie der Bundesrath erlassen, auch nicht für einen Einzelfall
ergehende polizeiliche Verfügungen. Die Arbeitervertreter sind bei der Berathung
und Beschlußfassung über die abzugebende gutachtliche Aeußerung zuzuziehen. Die
Landesbehörden find rechtlich nicht gebunden, die gutachtliche Aeußerung des
Genossenschafts= oder Sectionsvorstandes zu berücksichtigen. Diese Aeußerung ist
nach außen hin ohne rechtliche Bedeutung. Thatsächlich fällt sie, nicht bloß an sich,
sondern auch wegen der Bedeutung, welche ihr von der der Landesbehörde vorgesetzten
Instanz beigelegt werden kann, nicht leicht ins Gewicht.
Die Genossenschaften sind befugt (§ 78), nach Maßgabe des Statuts für den
Umfang des Genossenschaftsbezirkes oder für bestimmte Industriezweige oder Betriebs-
arten oder bestimmt abgegrenzte Bezirke Vorschriften zu erlassen: 1) über die von
Mitgliedern zur Verhütung von Unfällen in ihren Betrieben zu treffenden Ein-
richtungen unter Bedrohung der Zuwiderhandelnden mit Einschätzung in eine
höhere Gefahrenklasse, oder, falls sich die letzteren in der höchsten Gefahrenklasse
befinden, mit Zuschlägen bis zum doppelten Betrage ihrer Beiträge; 2) über das
in den Betrieben von den Versicherten zur Verhütung von Unfällen zu beobachtende
Verfahren unter Bedrohung der Zuwiderhandelnden mit Geldstrafen bis zu 6 Mark.
Die Unfallverhütungsvorschriften bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Genehmigung des
Reichs-(Landes-) Versicherungsamtes. Aber auch mit dieser Genehmigung erlangen
sie, soweit sie zwingenden Normen des Reichs= und Landesrechts widersprechen,
keine Gültigkeit. Sie find lediglich autonomische Festsetzungen; sie haben den
Charakter vertragsmäßiger Normen: wie eine Conventionalstrafe oder der Inhalt
einer Arbeitsordnung. Die Mitwirkung des Reichs-Versicherungsamtes sichert vor
der Collision mit staatlichen Vorschriften 1. Eine fernere Gewähr vor Collifionen
mit staatlichen Normen besteht darin, daß das Reichs-Versicherungsamt in Zweifels-
fällen vor der Bestätigung die Landesbehörden zu Aeußerung veranlassen kann;
ferner darin, daß nach gesetzlicher Vorschrift die genehmigten Vorschriften den
höheren Verwaltungsbehörden durch den Genossenschafts-(Sections-WVorstand mit-
zutheilen find.
Bei den Baugenossenschaften können die Vorschriften auch auf die Nicht-
mitglieder ausgedehnt werden; bei den land= und forstwirthschaftlichen können sich
die Vorschriften nur auf die Arbeitgeber, nicht auf die Versicherten beziehen.
Die bei dem Erlasse von Unfallverhütungsvorschriften mitwirkenden Arbeiter
haben volles Stimmrecht. Ueber die Verhandlungen und die (mündliche) Ab-
stimmung ist ein Protokoll aufzunehmen, aus welchem die Abstimmung der Arbeiter-
vertreter ersichtlich sein muß. Dieses Protokoll ist dem Reichs-Versicherungsamte
vorzulegen. Die Mitwirkung der Arbeiter erfolgt, um die Arbeiter gegen Willkür
und Unbilligkeit zu sichern 2. Alle zur Theilnahme an der Verhandlung erschienenen
Personen sind stimmberechtigt, ohne daß es, wenn einzelne von den Eingeladenen
ausbleiben, einer Ausgleichung der Stimmen zwischen den Vorstandsmitgliedern
einer= und den Arbeitervertretern andererfeits bedarf.
Die wegen Nichtbefolgung der Unfallverhütungsvorschriften eintretende höhere
Einschätzung des Betriebes, sowie die Festsetzung von Zuschlägen erfolgt durch den
Genossenschafts-(Sections-)Vorstand; hiergegen findet binnen zwei Wochen Be-
schwerde an das Reichs-Versicherungsamt statt. Die Festsetzung der Strafen gegen
Verficherte erfolgt durch den Vorstand der Betriebskranken = (Knappschafts-)Kasse
oder, wenn solche für den Betrieb nicht errichtet ist, durch die Ortspolizei-
behörde. Gegen die Festsetzung findet Beschwerde an die vorgesetzte Aufsichts-
behörde statt.
Gleichfalls wegen ihres Interesses an der Verhütung von Unfällen find die
Genossenschaften befugt, durch ein für alle Mal oder für bestimmte Fälle Beauftragte
die Befolgung der ergangenen Unfallverhütungsvorschriften zu überwachen, von den
Einrichtungen der Betriebe, soweit fie für die Genossenschaft von Bedeutung sind,
Kenntniß zu nehmen und behufs Prüfung der Arbeiter= und Lohnnachweisungen
Geschäftsbücher und Listen einzusehen.
1 Vgl. über den Charakter der Unfall= sin, Arbeiterversicherungsrecht, I. S. 809.
verhütungsvorschriften noch Laband, II, S. 283, * Motive zum Unfallverficherungsgesetz vom
G. Meyer, Verwaltungsrecht, I. S. 655, Ro] 6. Juli 1884, S. 77.