Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

§ 36. Das Reichshaushalts-Etatsgesetz. 323 
find, gesetzlich bestehende Steuern zu bezahlen, auch wenn das Etatsgesetz noch nicht 
votirt ist; daß dagegen die Staatsregierung, solange dieses Gesetz noch nicht zu 
Stande gekommen ist, in Frankreich auch nicht die auf Gesetzen beruhenden Aus- 
gaben und Einnahmen machen darf. Die Nichtvotirung der loi de finances, sei es 
in der Form der Ablehnung oder in der milderen der Vertagung, bedeutet und soll 
bedeuten nicht den Stillstand der Staatsmaschine, noch die Befreiung der Steuer- 
zahler, noch die Beraubung der Couponsinhaber, sondern für Minister und zu- 
weilen für den Präsfidenten die Nothwendigkeit, „se soumettre ou se démettre“ 1. 
So war das Recht, aus allgemein politischen Gründen das Etatsgesetz vor- 
zuenthalten, das Mittel, die Präsidenten Mac Mahon und Grévy und zahllose 
Minister zu Fall zu bringen . 
Hiernach muß „die landläufige Ansicht“, daß das französische Budgetrecht ein 
logisches Product der für Frankreich unbedingt gültigen Lehre von der Volks- 
souveränetät ist, durchaus aufrecht erhalten werden 5. 
  
Das belgische Budgetrecht. 
Auch das belgische Staatsrecht beruht auf dem Principe der Volks- 
souveränetät. Der König hat nur abgeleitete, nur übertragene Gewalten. 
Aber er hat die Vertretung des Staates nach außen und die vollziehende Gewalt. 
Diese Befugniß soll er — wenigstens auf die Dauer — nur nach dem Willen des 
wahren Souveräns, des Volkes, ausüben. Deshalb muß er ein verantwortliches 
Ministerium nehmen, und deshalb ist das Budgetrecht so gestaltet, daß es das 
Mittel ist, um das Ministerium nach dem Willen der Volksvertretung zu dirigiren. 
Die belgische Verfassung bestimmt demgemäß art. 115: „Chaque année, les chambres 
arretent la loi des comptes et votent le budget. Toutes les recettes et dépenses 
de PEtat doivent étre portées au budget et dans les comptes.“ Art. 111: „Les 
impöts au profit de P’Etat sont votés annuellement. Les lois qui établissent 
Dn’ont de force due pour un an, si elles ne sont renouvellées.“ Die Staats- 
regierung kann sonach ohne Budgetgesetz, ohne Zustimmung der Kammern weder 
irgend welche Ausgaben leisten, noch irgend welche Einnahmen erheben; selbst die 
Steuergesetze gelten im Verhältniß von Regierung zum Parlament nur auf ein 
Jahr, bis sie wieder erneuert sind. Der Satz, daß alle Einnahmen und Ausgaben 
in das jährlich zu votirende Budget eingestellt werden müssen, soll bedeuten, daß 
alle Einnahmen und Ausgaben nur auf Grund des Etatsgesetzes, also nur mit 
Bewilligung des Parlaments, gemacht werden dürfen". Das Parlament kann das 
Budget verweigern, wenn es will, nicht dieses Budgets wegen, sondern aus 
allgemeinen politischen Gründen: „pour maintenir le pouvoir exécutif dans ses 
limites“ 5, um die Exekutive von sich abhängig zu machen, um dem Ministerium 
mit Erfolg zuzurufen: „öte toi, qgue je m'y mette.“ 
Die Nichtvotirung des Budgetgesetzes will weder die Besoldung der Richter, 
noch die Auszahlung der Staatsschulden hindern, sondern der Staatsregierung, dem 
am Ruder befindlichen Ministerium, die Möglichkeit entziehen, über die Staatsmittel 
weiter zu verfügen und die Staatsgeschäfte fortzuführen. In diesem Sinne ist die 
Votirung des Budgets in Belgien eine res merae facultatis . 
Weil Belgien herkömmlich und thatsächlich ein parlamentarisch, d. h. nach 
dem Willen der Parlamentsmehrheit, regiertes Land ist, weil hiernach die Deputirten- 
kammer es nicht nöthig hat, ihre Herrschaft durch die Versagung des Etatsgesetzes 
festzustellen, deshalb kommt dort eine Verweigerung des Gesammtbudgets nicht vor. 
  
1 Sorief Leon Gambetta dem Präsidenten s Anderer Ansicht Jellinek, Gesetz und 
Mac Mahon und seinem Ministerium BuffetBudget, S. 163. 
zu: „il faut se soumettre ou se démettre.“ * Anderer Ansicht Jellinek, Gesetz und Ver- 
* Das Ministerium Freycinet wurde 1886/ordnung, S. 166 f. 
dadurch gestürzt, daß die Mittel zur Besoldung 5 J. J. Thonisson, La constitution 
der Unterpräfecten nicht votirt wurden. Jel= belge annotée, 3ieme édition zu art. 111. 
linek, S. 162. * Anderer Ansicht Jellinek, S. 167. 
21“
	        
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