§8 36. Das Reichshaushalts-Etatsgeset. 327
nicht zu vermeiden find, indem z. B. häufig Ausgaben geleistet werden müssen, zu
denen der Staat wider Erwarten und Willen der Behörden durch die Gerichte
verurtheilt werden kann. Die Verfassungsurkunde schreibt in Artikel 48 vor, daß
gewisse Staatsverträge „zu ihrer Gültigkeit“ der Zustimmung der Kammer
bedürfen; sie enthält indeß keine Vorschrift, daß Rechtsgeschäfte, wenn und soweit
sie Etatsüberschreitungen zur Folge haben, zu ihrer Gültigkeit der Zustimmung
des Landtages bedürfen. Sie legt in Art. 104 der Staatsregierung die Verpflichtung
auf, für jede Etatsüberschreitung die nachträgliche Genehmigung des Landtages
nachzusuchen; sie fügt indeß nicht hinzu, noch ist in § 18 des Ober-Rechnungs-
kammer-Gesetzes vom 27. März 1872 angeordnet, daß, im Falle die Etatsüber-
schreitung nicht genehmigt wird, das dieselbe bewirkende Rechtsgeschäft für den Staat
unverbindlich sei. Vergebens würde man in den langwierigen Verhandlungen,
welche der Feststellung des Verfassungstitels von den Finanzen, oder welche dem
Ober-Rechnungskammer-Gesetz vorausgegangen sind, die Behauptung begründet oder
auch nur aufgestellt finden, daß die Verbindlichkeit aller Rechtsgeschäfte für den
Staat durch die Innehaltung des Etats bedingt sei.
Das Patent, die ständischen Einrichtungen betreffend (über die Bildung des
Vereinigten Landtages), vom 3. Februar 1847 (G.-S. 1847, S. 34)
behielt die Feststellung des Etats, sowie die Verfügung über die Verwendung der
Staatseinnahmen und Ueberschüsse der Krone vor.
Dagegen bestimmt § 6 der Verordnung über einige Grundlagen der künf-
tigen Preußischen Verfassung vom 6. April 1848 (G.-S. 1848, S. 87): „Den
künftigen Vertretern des Volks soll jedensalls die Zustimmung zu allen Gesetzen,
sowie zur Festsetzung des Staatshaushalts-Etats und das Steuerbewilligungs-
recht zustehen.“ Die staatsrechtliche Bedeutung dieser Verordnung war die einer
bloßen Verheißung 1; letztere wurde dahin verstanden, daß die Volksvertreter nicht
nur bei der Festsetzung des Staatshaushalts-Etats mitzuwirken haben, sondern auch
die Befugniß zur Steuerbewilligung und Steuerverweigerung erlangen sollen. Die
octroyirte Preußische Verfassung vom 5. Dezember 1848 bestimmte nun im Art. 98
im Einklange mit dem heutigen Art. 99 (den bezüglichen Theil des Art. 115 der
belgischen übersetzend): „Alle Einnahmen und Ausgaben des Staats müssen für
jedes Jahr im Voraus veranschlagt und auf den Staatshaushalts-Etat gebracht
werden. Letzterer wird jährlich durch ein Gesetz festgestellt.“ Die Preußische Ver-
sassung wiederholte dagegen nicht die Vorschrift in Art. 111 der belgischen Ver-
saffung, daß die Steuern nur auf ein Jahr bewilligt gelten. Die wesentlichste
Aenderung wurde aber von der Staatsregierung dadurch herbeigeführt, daß sie (in
den heutigen Art. 109) die Worte einfügte: „Die bestehenden Steuern und Ab-
gaben werden forterhoben“ — bis sie durch ein Gesetz abgeändert werden. Damit
sollte das Steuerverweigerungsrecht des Landtages ausgeschlossen und unzweideutig
ausgesprochen werden, daß alle Steuern solange forterhoben werden dürfen, mit,
ohne oder gegen den vom Landtage beschlossenen Staatshaushaltsetat, bis alle
drei Factoren der Gesetzgebung in die Aufhebung gewilligt haben. Dies wollte
die Mehrheit der zweiten Kammer (darunter v. Beckerath, Simson, Graf
Schwerin) und die Minderheit der ersten Kammer (darunter Dahlmann,
Camphaufsen) nicht. Man versprach, von dem Steuerverweigerungsrecht kaum
jemals und jedenfalls nur in äußersten Nothfällen Gebrauch zu machen (z. B.
wenn ein Ministerium, wie das des Grafen Adam Schwarzenberg, sich dem
Auslande verkauft hat), man glaubte aber, daß dies Recht zu den Grundlagen
jeder wahren Verfassung gehöre, wie es denn auch in England, Frankreich und
Belgien bestehe. Die Minderheit entgegnete (namentlich v. Bismarck) am
24. September 1849, die Kronen in England und Belgien gleichen geschenkten
Gäulen, die man nicht so genau besehen dürfe, sie seien nur Verzierungen am
Staatsgebäude und durchaus von der starken preußischen Krone verschieden; das
Steuerbewilligungsrecht gebe den Kammern in die Hand „eine Waffe, welche, mit
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1 Arndt, Preuß. Verf., S. 10.