§ 36. Das Reichshaushalts-Etatsgesetz. 331
dienen. Diese Einnahmen dienen sonach ipso jurs, auf Grund der Verfaffung,
ohne und selbst gegen den Willen des Reichstages zur Bestreitung aller gemein-
schaftlichen Ausgaben; sie können daher vom Reichstage nicht verweigert werden;
sie werden forterhoben, solange die Gesetze, auf Grund deren sie erhoben werden,
nicht vom Reichsgesetzgeber aufgehoben sind. Aus Sinn und Wortlaut des Art. 70
der Reichsverfassung ergiebt sich, daß der Reichstag so wenig wie das preußische
Abgeordnetenhaus ein Einnahmebewilligungsrecht und ein Einnahmeverweigerungs-
recht besitzt. Einnahmequellen hat die Regierung im Reiche nur durch Zu-
stimmung des Reichstages, durch Reichsgesetz; ist aber einmal das Reichsgesetz
erlassen, so stehen die aus dem Gesetze fließenden Einnahmen der Regierung ohne
und gegen den Willen des Reichstages bis zur Aufhebung des Gesetzes zur Ver-
fügung. Ja, noch mehr. Enthält die loi de finances in Frankreich und-
Belgien, die Appropriationsacte in England erst die Vollmacht für die
Staatsregierung, die Steuern zu erheben, so muß behauptet werden, daß die
Reichszölle und die Reichssteuern in allen Fällen, mit und ohne Etatsgesetz,
nicht bloß erhoben werden dürfen, sondern sogar erhoben werden müssen. Zu-
treffend hatte bereits der sächsische Bundesrathsbevollmächtigte v. Friesen am
9. April 18671 im verfassungsberathenden Reichstage darauf hingewiesen, daß das
Reich indirekte Steuern zu seiner Verfügung habe, also keine Einnahmen, die sich,
wie fie einmal gesetzlich feststehen, ohne Weiteres verweigern lassen — „selbst die
eifrigsten Vertheidiger des Bewilligungsrechts werden nie dahin kommen zu sagen,
wir wollen alle Zollschranken aufheben, und es soll Jedermann einführen können,
was er will, die Zölle sollen künftig wegfallen.“ Wenn die preußische
Staatsregierung berechtigt ist, auf Einnahmen des preußischen Staates aus Steuern,
Stempeln, Gerichtskosten u. dergl. willkürlich zu verzichten , so kann weder das
Reich, noch ein Bundesstaat Reichszoll= oder heeichssteuergeseß unausgeführt lassen,
vielmehr müssen alle Zölle und alle Reichssteuern, welche erhoben werden dürfen,
außer auf Grund besonderer reichsgesetzlicher Ermächtigung, auch wirklich erhoben werden.
Dies folgt aus Art. 38 der Reichsverfassung, ferner daraus, daß ein solches Recht, auf
Reichszölle und Reichssteuern zu verzichten, nur bestehen könnte, wenn es ausdrücklich
vom Reichsgesetzgeber eingeräumt wäre, sodann daraus, daß die Zoll= und Reichs-
steuergesetze genau vorschreiben, wann, selbst auf Kosten des erlassenden Staates,
auf sog. „privative Rechnung"s, Zölle und Steuern unerhoben bleiben
dürfen, endlich daraus, daß eine ungleiche Behandlung in Bezug auf die Zölle und
Reichssteuern nicht bloß das Reich finanziell schädigt, sondern auch eine ganz
ungleichartige und ungerechtfertigte Begünstigung oder Benachtheiligung einzelner
Betriebe auf Kosten der anderen hervorrufen würden. Zuckerfabriken oder Salinen,
die milder behandelt würden, würden auf Kosten der anderen prosperiren, Zoll-
erlasse könnten Industrie= und andere Productionszweige schädigen, was durchaus
gegen Geist und Wortlaut der Zollvereinigungsverträge und der Reichsverfassung ist“.
Die Verpflichtung und die Berechtigung zum Erheben der
Reichseinnahmen gründet sich indeß nicht auf das Etatsgesetz,
sondern auf die Zoll= und Steuergesetze.
Der Wortlaut des Art. 69 geht nicht dahin, daß nur die im Etatsgesetz
bewilligten Ausgaben geleistet werden dürfen. Andererseits muß aus anderen
Gründen gefolgert werden, daß im Reiche ebenso wie in Preußen Ausgaben nur
1 Sten. Ber. S. 649. Nr. 5); ebenso ihrerseits die Zölle tragen für
* Arndt, Vorbemerkung zu Art. 99 der Waaren, die den bei ihnen accreditirten Gesandten.
Preuß. Verfasfsung und S. 285. Anerkannt ist zugehen; s. auch weiter unten.
dies Recht der preußischen Regierung auch in * Vagl. Art. 33 und Art. 36, Abs. 2, 3 der
§ 18 des Comptabilitätsgesetzes. Neichverfasung s. ferner § 23 des Haupt-
6 2 So% B. dürfen die Einzelstaaten auf protokolls der Münchener Vollzugs-Kommission
rund be
onderer Ermächtigung für ihre (1853) und Protokoll vom 3. April 1833 in den.
eigene Rechnung Salz bei Koihnänden, so= Verträgen und Verhandlungen des Zollvereins,
wie zu Wohlthätigkeitszwecken abgabenfrei ab= Bd. 1, S. 270, Delbrück, Artikel 40 der
#eben (neberiinkungt vom 8. Mai 1867, Art. 5 B, Reichsverfassung, S. 60, Art. 19 und 20 des
t. 1, Gesetz vom 12. Oktober 1867, § 20, Zollvereinigungsvertrages vom 8. Juli 1867.