420 Siebentes Buch. Finanzwesen.
Krone auf Grund des ihr verfassungsmäßig zustehenden Gnadenrechts zustehen 1.
Dies gilt für das Reich insoweit nicht, als Niemand der Reichskasse zufließende
Einnahmen aus Zoll-, Steuer-, Stempelgesetzen oder sonstigen Gesetzen oder Ver-
waltungsvorschriften (z. B. der Schiffsvermessungsordnung), erlassen kann, auch
insoweit nicht, als Niemand auf Ansprüche zum Nachtheile des Reiches verzichten
darf, welche dem Reiche aus der Veräußerung von Staatseigenthum zustehen.
Wenn dagegen der Kaiser oder eine Reichsbehörde in einem Falle es nicht für an-
gemessen oder nicht für aussichtsvoll erachtet, wirkliche oder vermeintliche Defecte
von einem Reichsbeamten einziehen zu lassen, oder wenn der Kaiser eine gegen
einen Reichsbeamten im Disciplinarverfahren erkannte Geldstrafe im Gnadenwege
erläßt, oder wenn er in den Fällen, in denen ihm das Begnadigungsrecht zustehts,
Strafen und Kosten erläßt, oder wenn Conventionalstrafen nicht geltend gemacht
oder dem Reiche angefallene Erbschaften nicht angetreten werden, so handeln der
Kaiser und die Reichsbehörden ganz innerhalb der ihnen zugewiesenen Befugnisse,
und der Rechnungshof hat darüber nicht dem Bundesrathe oder dem Reichstage
Bemerkungen zu machen. Er soll auch nur Abweichungen von Gesetzen, nicht
von „Vorschriften und Verwaltungsgrundsätzen“, die auf die Er-
werbung u. s. w. von Staatseigenthum Bezug haben, zur Mittheilung bringen“".
Das Recht des preußischen Landtages zur Controle und die Befugniß der
preußischen Krone zum Erlasse justificirender Cabinetsordres decken sich
ebenso wenig in allen Fällen wie fie sich ausschließen. Der Landtag hat stets das
Recht der Kenntnißnahme und Controle darüber, ob alle etatsmäßigen und
alle unmittelbar auf Gesetzen beruhenden Einnahmen erhoben find; er kann in allen
solchen Fällen Bemerkungen machen, das Ministerium tadeln. Aber dieses bedarf bei
Einnahmen seiner Genehmigung nicht. Er kann es also vielleicht beklagen und
mißbilligen, aber niemals verhindern, wenn etatsmäßige oder auf Gesetzen beruhende
Einnahmen auf Grund einer Cabinetsordre unerhoben bleiben; denn, wie dies
auch bei Berathung des Gesetzes vom 27. März 1872 von der Staatsregierung
wiederholt betont und vom Abgeordnetenhause durch Beschluß vom 17. Februar
18725 gutgeheißen war, besteht in Preußen kein Einnahmebewilligungsrecht.
Dagegen bedarf es stets der Genehmigung des Landtages zu einer außeretats-
mäßigen Ausgabe oder einer Ausgabenüberschreitung, auch wenn diese
durch justificirende Cabinetsordre gedeckt find. Die Cabinetsordre bedeutet in diesem
Falle, daß der Staat verzichtet, diese Ausgabe oder Mehrausgabe von dem ver-
antwortlichen Beamten einzuziehen; sie hebt das Recht des Landtages, über die
Genehmigung zu beschließen, aber in keiner Weise auf.
Dies alles gilt für das Deutsche Reich mit einer doppelten Maßgabe: zunächst
mit der, daß Bundesrath und Reichstag auch bei außeretatsmäßigen Einnahmen
nicht bloß ihre Monita machen dürfen, sondern auch über die Genehmigung zu
befinden haben, und sodann mit der weiteren, daß für den Erlaß justificirender
Cabinetsordres im Reiche ein viel geringerer Raum besteht als in Preußen, nämlich
nicht allgemein, sondern nur auf den Gebieten, wo auf Einnahmen des Reiches
nach den früheren Ausführungen verzichtet werden kann.
„Etatsüberschreitungen im Sinne des Artikels 104 der Verfassungsurkunde
find alle Mehrausgaben, welche gegen die einzelnen Kapitel und Titel des
nach Artikel 99 a. a. O. festgestellten Staatshaushalts = Etats oder gegen die von
der Landesvertretung genehmigten Titel der Spezialetats stattgefunden haben, soweit
nicht einzelne Titel in den Etats als übertragbar ausdrücklich bezeichnet find und
bei solchen die Mehrausgaben bei einem Titel durch Minderausgaben bei anderen
ausgeglichen werden. Unter dem Titel eines Spezialetats ist im Sinne
1 Lasker, in den Sten. Ber. des Abge- Siehe oben S. 84.
ordnetenhauses 1872, S. 835, Hertel, Die 4 Val. Sten. Ber. des preuß. Abgeordneten-
Ober-Rechnungskammer, Ergänzungsbd. S.14 f., hauses 1872, S. 817—839; s. auch dort S. 1263.
La 8 gnd, Archiv für öffentl. Recht, Bd. VII, 5 Sten. Ber. 1872, S. 817 ff.
. .» * Siehe oben S. 400 a. a. O.
2 Siehe oben S. 331, 364, 400.