8 9. Die rechtliche Natur des Deutschen Reiches. 41
Damit deckt es sich, wenn Fürst Bismarck im verfassungsberathenden Reichstage
1867 (Sten. Ber. S. 388) gesagt hat: „Innerhalb des Bundesraths
findet die Souveränetät einer jeden Regierung ihren unbestrit-
tenen Ausdruck.“ Nur in dem vorbezeichneten Sinne ist es richtig, wenn in
den Motiven zum Gesetzentwurf über die Einverleibung von Elsaß-Lothringen das
Deutsche Reich seinem Grundcharakter nach als ein „Bund selbstständiger,
souveräner Staaten“ hingestellt wird.
In jedem Falle haben die Landesherren der Einzelstaaten noch ihre
persönliche Souveränetät und alle damit verbundenen staats= und völkerrecht-
lichen Ehrenrechte ungeschmälert behalten !1, weil sie, soweit die Verfügungsgewalt
von ihren Staaten auf das Reich übergegangen ist, Antheil am Imperium über
das Reich haben, weil sie in ihrer Gesammtheit mit Einschluß der freien Städte
der Souverän im Deutschen Reiche sind. Denn nicht der Kaiser ist Souverän des
Deutschen Reiches; Kaiser ist nur ein Ehrentitel, die Bezeichnung für Reichs-
präsidium. Auch hier genügt es, auf die Worte Bismarck's hinzuweisen (Sten. Ber.
des deutschen Reichstages, 1, 1871, S. 299): „Die Souveränetät ruht nicht beim
Kaiser, sie ruht bei der Gesammtheit der verbündeten Regierungen.“
Ist nun das Deutsche Reich ein Staatenbund oder ein Bundesstaat? Die
Antwort hierauf ist: es ist ein Bundesstaat in dem Sinne, wie dieses Wort von
Theorie und Praxis verstanden wurde. Es hat eine eigene Gesetzgebung, die auch
für die Unterthanen in den einzelnen Staaten, und zwar ohne Weiteres verbindlich
ist; es hat eigene, nicht in allen Fällen vom Willen der Einzelstaaten abhängige
Organe (den Kaiser, den Reichskanzler, den Reichstag), eigene Verwaltungs= und
Gerichtsbehörden; es hat eigenes Vermögen, einen selbstständigen Reichsfiscus u. s. w.
Hierbei ist indeß zu beachten, daß die Grenzlinien zwischen Bundesstaat und
Staatenbund fließende sind. Auch im Staatenbunde finden sich wenigstens die
Anfänge dieser Eigenschaften. Wichtiger als alle theoretischen Sätze vom Staaten-
bunde und Bundesstaate ist die Präponderanz Preußens nach Ausschließung von
Oesterreich.
Bestehen noch die Verträge zu Recht, auf denen der Norddeutsche Bund
und das Deutsche Reich beruhen? In der Erklärung Preußens vom 5. April 1884,
welcher der Bundesrath des Deutschen Reiches sich einstimmig anschloß (Annalen
des Deutschen Reiches, herausgeg. v. Hirth, 1886, S. 350 ff.), ist gesagt, daß die
verbündeten Regierungen entschlossen sind, „die Verträge, auf welchen unsere
Reichsinstitutionen beruhen, in unverbrüchlicher Treue aufrecht zu erhalten und.
zu handhaben“. Es heißt darin weiter: „Jede Verminderung der Zuversicht, mit
welcher die verbündeten Regierungen auf die Festigkeit der unter ihnen geschlossenen
Verträge bauen, würde Zweifel über die Zuverlässigkeit der Verträge herbei-
führen, auf denen der Bund der deutschen Staaten beruht.“ Es wird darin ferner
von „Bundesverträgen“, „Grundverträgen“ und von den „vertrags-
mäßigen Rechten der Reichsmitglieder“ gesprochen. Diese Verträge
können indeß, wie bereits früher nachgewiesen ist, nur noch als Auslegungsmaterial
dienen und haben für die einzelnen Bundesmitglieder lediglich eine politische
und moralische Bedeutung. Mit jener Erklärung sollte gesagt werden, daß die-
jenigen Verträge, welche die gesetzliche Begründung des Deutschen Reiches zur Folge
hatten, den Bundesmitgliedern untereinander auch für spätere Zeiten gewisse
Pflichten auferlegen, vor Allem die Verpflichtung, nicht über das nothwendige
Maß die Selbstständigkeit der einzelnen Staaten aufzuheben, nicht den Einheits-
staat anzustreben, nicht ohne triftige Gründe in die Verwaltung der Einzelstaaten
einzugreifen. Rechtlich aber binden nicht mehr diese Verträge die Behörden und
die Unterthanen im Deutschen Reiche, sondern nur die Verfassung und die in Ge-
mähheit dieser erlassenen Gesetze und Verordnungen. Die Verfassung und die Ge-
setze des Deutschen Reiches haben ihren geschichtlichen Ursprung in den Ver-
trägen; diese können auch von den Einzelstaaten als eine moralische Waffe benutzt
1 Siehe auch Laband, I, S. 93; v. Sarwey, Württembergisches Staatsrecht, I, S. 396.