42 Erstes Buch. Entstehung des heutigen Deutschen Reiches.
werden, wenn etwa die Präsidialmacht die Mediatisirung der einzelnen Staaten an-
streben wollte. Würden aber Bundesrath und Reichstag sich über ein Gesetz ver-
ständigt haben, so kann kein Einzelstaat die Befolgung eines solchen Gesetzes mit
der Behauptung ablehnen, daß dieses Gesetz dem mit ihm abgeschlossenen Bündniß-
vertrage widerspreche. Daß die Verfassung des Deutschen Reiches nur ein Vertrag
und daß das Verhältniß der deutschen Staaten zu einander nur, wie dies
Seydel, Commentar, S. 23, behauptet, „ein Vertragsverhältniß ist“, folgt aus
jener Erklärung keineswegs. Auch der Umstand, daß einzelne Artikel der Reichs-
verfassung die Vertragsform bewahrt haben, so z. B. Art. 42: „Die Bundes-
regierungen verpflichten sich“ u. s. w. (s. auch Art. 10, 35, Abs. 2, 36, Abf. 3,
37, 49, 58, 70, 71, Abs. 1), beweist keineswegs den Vertragscharakter der ge-
sammten Verfassung. Denn einmal find gerade die allerwichtigsten Vorschriften,
z. B. über Gesetzgebung, Militär-, Zoll= und Steuerwesen, keineswegs in die Ver-
tragsform gekleidet und wollen unmittelbar gelten. Sodann aber bedeutet die
Uebernahme von Vertragspflichten in die Verfassung, daß diese aufgehört haben,
Vertragsrecht zu sein, und Verfassungsrecht geworden sind. So z. B. find die
Bahnpolizei= und Betriebsreglements nicht als Vertrag der Bundesstaaten, sondern
als Reichsverordnung zu Stande gekommen trotz der Vertragsform des Art. 42 ff. 1.
Für die Frage der Abgrenzung der Zuständigkeit der Einzelstaaten von der-
jenigen des Deutschen Reiches ist zu beachten, daß das letztere nur „nach Maß-
gabe des Inhalts seiner Verfassung“ das Recht der Gesetzgebung auslbt (Reichs-
verfassung Art. 2), daß es somit nur diejenigen Befugnisse besitzt, welche ihm in
der Verfassung übertragen oder auf Grund der Verfassung von ihm erworben find.
Oder anders ausgedrückt: die Rechtsvermuthung spricht für die Zuständigkeit des
Landesz; diese ist nur dann als ausgeschlossen zu erachten, wenn die Zuständigkeit
des Reiches — was allerdings in sehr weitem Umfange der Fall ist — durch
eine besondere Norm begründet wird.
Die preußische Verfassungsurkunde hat einen negativen, die Reichsverfassung
einen positiven Inhalt (Arndt in Hirth's Annalen, 1885, S. 710). Die
preußische Verfassung schreibt nämlich vor, in welchen Fällen die Krone nicht mehr
allein, sondern nur noch mit Zustimmung des Landtages — „durch Gesetz“ — über
irgend einen Gegenstand verfügen darf. Wo Vorschriften fehlen, besteht nach wie
vor das Verfügungsrecht der Krone. Für dieses spricht die Rechtsvermuthung.
während das Parlament keine anderen Befugnisse hat, als ihm durch die Verfassung
ausdrücklich übertragen sind. Die Reichsverfassung bestimmt, welche Befugnisse die
Centralgewalt ausüben darf, also welche Befugnisse die deutschen Einzelstaaten an
die Centralgewalt abgegeben haben. Daher ist der Einzelstaat überall zuständig,
wo seine Zuständigkeit in Folge pofitiven Rechtssatzes nicht ausgeschlossen, das
Reich dagegen nur da zuständig, wo seine Zuständigkeit auf eine positive Gesetzes-
vorschritt gestützt ist. Zur näheren Begründung dieser Sätze wird noch Folgendes
ienen:
„Die verbündeten Regierungen,“ so heißt es in der Thronrede, mit welcher
der verfassungsberathende Reichstag des Norddeutschen Bundes am 24. Februar 1867
eröffnet wurde (Sten. Ber. des verfassungsberathenden Reichstages, Bd. I, S. 1),
„haben sich über eine Anzahl bestimmter und begrenzter, aber
praktisch bedeutsamer Einrichtungen verständigt, welche ebenso im Bereiche
der unmittelbaren Möglichkeit, wie des zweifellosen Bedürfnisses liegen.
Der Verfassungsentwurf muthet der Selbstständigkeit der Einzelstaaten zu
Gunsten der Gesammtheit nur diejenigen Opfer zu, welche unentbehrlich
find, um den Frieden zu schützen, die Sicherheit des Bundesgebiets und die
Entwicklung der Wohlfahrt der Bewohner zu gewährleisten."
Noch klarer tritt dies hervor aus den Erklärungen, welche Fürst Bismarck
vor dem verfassungsberathenden Reichstage am 11. März 1867 (Sten. Ber. Bd. 1,
S. 136) abgegeben hat:
1 Arndt, Verordnungsrecht, S. 107 a. a. O.