476 Achtes Buch. Reichskriegswesen.
äußere Ehren, aber nicht unbedingten Gehorsam schulden. Indirekt aber mit
Sicherheit folgt das ausschließliche Recht des Kaisers zur Erklärung des Kriegs-
zustandes auch aus dem Umstande, daß den Landesherren in Art. 66, Abs. 2 der
Reichsverfassung besonders das Recht eingeräumt ist, zu polizeilichen Zwecken ihre
eigenen Truppen zu verwenden und alle anderen in ihren Ländern dislocirten
Truppentheile zu requiriren. Würden fie das Recht besitzen, den Kriegszustand zu
erklären, so würden fie des Rechts, das in Art. 66, Abf. 2 erwähnt ist, nicht
bedürfen. Für das ausschließliche Recht des Kaisers spricht, daß die Erklärung des
Kriegszustandes wohl meistens die kriegsbereite Aufstellung, die Mobilmachung
der betheiligten Truppen zur Voraussetzung oder zur Folge haben wird. Für
Kriegsfälle ist dies unbedingt anzunehmen, für Aufruhrfälle meistens; Letzteres
schon, um ein strengeres Regiment über die Truppen zu üben (Feldgerichte, Kriegs-
gesetze u. dergl.). Nur der Kaiser aber und kein Landesherr (von Bayern ab-
gesehen) kann die kriegsbereite Aufstellung, die Mobilmachung der Truppen ver-
fügen. Nach der Mobilmachung ist der Kaiser in alle Rechte des Contingentsherrn
in Bezug auf die Gerichtsherrlichkeit u. s. w. eingetreten. Aber noch weiter: wenn
ein Landesherr den Kriegszustand erklären dürfte, so könnte der Kaiser trotzdem den
Truppen befehlen, diesen nicht zu beachten; seine Truppen müssen ihm unbedingten
Gehorsam leisten, folglich kann der Kaiser die Erklärung des Kriegszustandes be-
liebig vereiteln. Dem Kaiser das alleinige Recht zur Erklärung des Kriegszustandes
zuzusprechen, wie dies Brockhaus, Das deutsche Heer, S. 79 f., Bornhak,
Preußisches Staatsrecht, IIII. S. 131, Hänel, Staatsrecht, I, § 73, und vor
Allem Laband, II, S. 522, und Seydel, Commentar, S. 379, thun, heißt
anerkennen, daß es ein einheitliches, einem, dem keaiserlichen Befehle unterstelltes
deutsches Heer giebt. Da die Verhängung des Kriegszustandes den Uebergang der
Civil= auf die Militärgewalt bedeutet, da sie der Militärgewalt den Befehl ertheilt,
die Landesverwaltung im gewissen Umfange unter eigener Verantwortung zu über-
nehmen, so folgt daraus, daß die Erklärung des Kriegszustandes einen militärischen
Befehl, keinen scheinbaren, sondern einen ernsthaften und wirklichen Befehl darstellt;
den Landesherren werden aber nur Ehren, dem Kaiser wird Gehorsam erwiesen.
Der den Landesherren schuldige Gehorsam besteht darin, daß den Befehlen des Kaisers
Folge geleistet wird.
Ist man heute in der Sache fast ganz darüber einig, daß nur der Kaiser und
nicht die Landesherren den Kriegszustand erklären können, so ist man allerdings
auch darüber einig, daß nur der Kaiser in Person, nicht ein militärischer Befehls-
haber, Festungscommandant u. dergl. den Kriegszustand erklären darf!. Legzere
Annahme widerspricht der Praxis und der Verfassung. Die Praxis ging schon zur
Zeit des Norddeutschen Bundes dahin, daß die Erklärung des Kriegszustandes noch
nach Maßgabe des preußischen Gesetzes vom 4. Juni 1851 erfolgt. So find am
16. Juli 1870 die Hafenbefestigungen der Kieler Bucht ohne kaiserliche Verkün-
digung durch den Stationschef in Belagerungszustand erklärt worden. In dem
Allerhöchsten Erlasse vom 22. Juli 1870, betreffend die Einsetzung von General-
gouverneuren und deren Instruktion, wurde den Generalgouverneuren das Recht
übertragen, die Art. 5, 6, 7 u. s. w. der preußischen Verfassungsurkunde und die
entsprechenden Vorschriften anderer Verfassungsurkunden zu fuspendiren. Endlich ist
die Verhängung des Belagerungszustandes für den Stadtkreis Bielefeld und Um-
gebung am 28. März 1885 vom obersten Militärbefehlshaber erklärt.
Das Gesetz vom 4. Juni 1851 bestimmt hierüber Folgendes: § 1: „Für den
Fall eines Krieges ist in den, von dem Feinde bedrohten oder theilweise schon besetzten
Provinzen jeder Festungs-Kommandant befugt, die ihm anvertraute Festung mit
ihrem Rayonbezirke, der kommandirende General? aber den Bezirk des Armeekorps
1 Siehe Sevgel, Comm., S. 379, Hänel, 2 D. h. der im Kriegsfalle de facto com-
Staattecht,! S. i Laband, Staats= mandirende General, nicht der, welchem für
recht, II, 523, öninz, Verwaltungercht. Friedensverhältnisse der Kriegsbezirk zusetheilt
S. 293, G. 7. er tungsrecht, I. S. 183, ist (Komm.-Ber. der I. Kammer, Druckf. 1850/51
Zorn, Staatsrecht, I. S. 198, Anm. 57. Nr. 52, S. 2).