5 47. Der Kaiser und das Heer. 477
oder einzelne Theile desselben zum Zweck der Vertheidigung in Belagerungszustand
zu erklären.“ § 2: „Auch für den Fall eines Aufruhrs kann, bei dringender Ge-
fahr für die öffentliche Sicherheit, der Belagerungszustand sowohl in Kriegs= als in
Friedenszeiten erklärt werden. — Die Erklärung des Belagerungszustandes geht alsdann
vom Staats-Ministerium aus, kann aber provisorisch und vorbehaltlich der sofortigen
Bestätigung oder Beseitigung durch dasselbe, in dringenden Fällen, rücksichtlich
einzelner Orte und Distrikte, durch den obersten Militairbefehlshaber in demselben,
auf den Antrag des Verwaltungschefs des Regierungsbezirks, wenn aber Gefahr im
Verzuge ist, auch ohne diesen Antrag erfolgen. — In Festungen geht die provisorische
Erklärung des Belagerungszustandes von dem Festungskommandanten aus.
Zweck und Sinn des Art. 68 der Reichsverfassung kann nun unmöglich dahin
gegangen sein, Rechte der preußischen Militärbefehlshaber oder des preußischen
Staatsministeriums, die ihnen durch Landesgesetz gegeben waren, zu entziehen, und
den Kaiser in höchst zweckwidriger Weise zu zwingen, diese Rechte stets in Person
auszuüben. Vielmehr zielt die Reichsverfassung im Allgemeinen nur dahin ab,
Rechte der Einzelstaaten an die Centralgewalt abzutreten 1. Art. 68 will und kann
also nur bedeuten, daß der Kaiser auch in nichtpreußischen Gebieten den Kriegs-
zustand erklären darf". Daß, wenn der Kaiser fern auf dem Kriegsschauplatze oder
auf hoher See sich befindet, oder wenn es sich um eine deutsche, vom Feinde be-
lagerte oder bedrohte Festung handelt, deshalb die Vertheidigung des Vaterlandes
versäumt werden und die Verhängung des Kriegszustandes unterbleiben soll, haben
weder die verbündeten Regierungen noch besonders die Krone Preußen noch endlich
die Reichsverfassung gewollt. Auch wenn ein Anderer den Kriegszustand erklärt, so
ist es in der Sache immer nur der Kaiser, aus dessen vermuthetem Willen er dies
thut. Der Kaiser kann jederzeit und sofort den Kriegszustand wieder aufheben,
und es ist gewiß, daß, wer den Kriegszustand erklärt, es, so schnell dies möglich
ist, dem Kaiser behufs selbstständiger Entscheidung vortragen oder melden muß.
Für die vom Kaiser selbst ernannten Civil- und Militärbefehlshaber ist es ganz
gewiß, daß der Kaiser, indem er ihnen gewisse Stellen, Commandos über Festungen,
über preußische oder sächsische Armeecorps anvertraute, ihnen vorkommenden Falls
auch das Recht zur Verhängung des Belagerungszustandes übertrug. Es gilt dies
aber auch rückfichtlich der obersten Militärbefehlshaber, die der König von Württem-
berg im Einvernehmen mit dem Kaiser ernennt. Denn der Kaiser hat durch Er-
theilung der Zustimmung in seine Ernennung den Höchstcommandirenden des
württembergischen Armeecorps eintretenden Falls und implicite ermächtigt, im Namen
des Kaisers den Kriegszustand zu erklären. Hiermit stimmt überein, daß die comman-
direnden Generale nach § 8 des Gesetzes über die Verpflichtung zum Kriegsdienste vom
9. November 1867 das Recht haben, die Reserven und die Landwehr einzuberufen,
„wenn Theile des Bundesgebietes in Kriegszustand erklärt werden“, nicht bloß,
wenn der Kaiser persönlich den Kriegszustand erklärt, sondern auch, wenn er von
ihnen erklärt worden ist. Gesetzt, daß zu einer Zeit, wo der Kaiser in entferntesten
Meeren weilt, Rußland Deutschland mit Krieg überfällt. so kann kein Zweifel
darüber bestehen, daß die commandirenden Generale in den Grenzprovinzen alsbald
den Kriegszustand erklären und die Reserven wie die Landwehr einberufen dürfen.
Nachdem im Sommer 1870 der Kriegszustand nicht vom Kaiser in Person aus-
gegangen und dies am 3. Dezember 1870 durch den Abgeordneten Duncker im
Reichstage zur Sprache gebracht wars, würde die Verfassung, wenn sie dies in Zu-
kunft verhindern wollte, eine klarere Faffung gewählt und nicht den Art. 68 in der
alten Fassung pure wiederholt haben.
Es bleibt an dieser Stelle noch die Frage übrig: wie und wem ist für die
Verhängung des Kriegszustandes Rechenschaft zu leisten?
§ 17 des Gesetzes vom 4. Juni 1851 schreibt vor: „Ueber die Erklärung des
Belagerungszustandes, sowie über jede — — Suspenfion eines der — genannten
1 Vg Wauchdi ie Verhandlung en des verfassungs= 2 Vgl. oben S. 203, 204.
berathenden Reichstages 1867 S. 618 f. : Sten. Ber. 1870, S. 47 f.