Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

8 50. Stärke und Zusammensetzung des stehenden Heeres. 511 
der Feststellung des Militär-Ausgabeetats „die auf Grundlage dieser Verfassung ge- 
setzlich feststehende Organisation des Reichsheeres zu Grunde gelegt werden soll“. 
Darüber, ob die Friedenspräsenz nur durch Reichsgesetz festgestellt werden kann, 
oder ob sie, wenn ein Gesetz über dieselbe nicht zu Stande kommt, durch den Kaiser 
allein festgestellt werden darf, oder ob alsdann bis zum Zustandekommen eines 
solchen Gesetzes die allgemeine Wehrpflicht suspendirt ist und kein Heer gehalten 
werden darf, findet sich weder in Art. 60 noch in Art. 62 der Reichsverfassung 
eine klare und zwingende Vorschrift. 
Nun schreibt Art. 63, Abs. 4 vor: „Der Kaiser bestimmt den Präsenzstand.“ 
Es ist gewiß, daß, wenn ein Gesetz über die Friedenspräsenzstärke besteht, der Kaiser 
bei Bestimmung des Präsenzstandes an dieses Gesetz gebunden ist. Der Kaiser kann 
daher dauernd oder durchschnittlich den Präsenzstand nicht über die gesetzlich be- 
stimmte Präsenz bemessen. Dies ist anzunehmen, trotzdem die Anträge Duncker:t, 
wonach der Kaiser nur „in Gemäßheit der Bundesgesetze“, und Günthers?, wonach 
der Kaiser nur „innerhalb der im heutigen Artikel 60 getroffenen Bestimmungen“ 
den Präsenzstand soll bestimmen dürfen, vom Reichstage abgelehnt wurden, und 
zwar muß dies deshalb angenommen werden, weil Reichsgesetze nicht vom Kaiser 
einseitig aufgehoben oder abgeändert werden können, weil auch sonst nicht abzusehen 
ist, warum die Verfassung über die Präsenzstärke in Art. 60, Satz 2 bestimmt 
hätte, daß sie im Wege der Reichsgesetzgebung festgestellt werden solls. Wenn aber 
kein Gesetz über die Friedenspräsenzstärke zu Stande kommt, so tritt die Vorschrift 
in Art. 63, Abs. 4, abgesehen von dem Ausgabenbewilligungsrechte, uneingeschränkt 
in Anwendung. Dies ist allerdings sehr streitig. Brockhaus, Das deutsche 
Heer und die Contingente der Einzelstaaten, S. 45 f., L. v. Savigny, im Archiv 
für öffentliches Recht, Bd. III. S. 244 ff., G. Meyer, Staatsrecht, S. 209, 
erblicken in Absatz 4 des Art. 63 nur das Recht des Kaisers, 1) innerhalb 
und außerhalb der gesetzlichen Friedenspräsenzstärke (Art. 60) die Zahl der bei 
den Fahnen befindlichen Mannschaften zu bestimmen und 2) die durch die gesetzlich 
festgestellte Friedenspräsenzstärke des gesammten Heeres bestimmte Totalziffer nach 
Maßgabe des Art. 58 in die einzelnen Contingentsziffern zu zerlegen, also das 
Facit einer durch Gesetz und Verfassung vorgeschriebenen Rechnung festzustellen. 
Hiergegen spricht, daß das in Abs. 4 des Art. 64 dem Kaiser eingeräumte Recht 
(vom Geldausgabenbewilligungsrechte abgesehen) weder in dem Art. 63 noch an 
einer anderen Stelle der Verfassung für den Fall beschränkt ist, daß ein Gesetz über 
die Friedenspräsenzstärke nicht zu Stande gekommen ist. Es ist Solches auch gar 
nicht die Absicht gewesen; denn für solchen Fall wollte man sich, wie oben nach- 
gewiesen ist, durch das preußische Ausgabenbewilligungsrecht gegen den Absolutismus 
sichern. Der Kaiser kann zwar den Präsenzstand — wenn kein Gesetz entgegen- 
steht — selbst normiren, Geld für das Heer soll aber nur (Art. 62) auf Grund 
Etatsgesetzes ausgegeben werden dürfen. Bei Feststellung dieses Gesetzes soll das 
Mitbestimmungsrecht des Reichstages (und der verbündeten Regierungen) zur 
Geltung gebracht werden. Würde die Verfassung gewollt haben, daß der Kaiser 
nur auf Grund eines Reichsgesetzes und innerhalb desselben den Präsenzstand be- 
stimmen darf, so hätte sie in Abs. 4 des Art. 63 eine Einschränkung einschalten müssen, 
so hätte der Reichstag die Anträge Duncker und Günther zu Absf. 4 in Art. 63 
nicht abgelehnt, so hätten die Regierungen das Verfassungswerk nicht acceptirt, so 
hätte der nationalliberale (Mehrheits-)Redner Lasker wie der Vertreter der Frei- 
conservativen (Graf Bethusy-Huch nicht sagen können, daß sich die an- 
genommenen Verfassungssätze von den abgelehnten Stolberg'schen Anträgen nur 
durch die Wahrung des Ausgabenbewilligungsrechts unterscheiden. Die hier ver- 
tretene Ansicht wird getheilt von Laband, Reichsstaatsrecht, II, S. 566, Thu- 
dichum, Verfassungsrecht des Norddeutschen Bundes, S. 416 ff., und in v. Holtzen- 
dorff's Jahrbuch, nunmehr auch von Seydel, Comm., S. 357 ff., Schultze, 
  
1 Drucksachen Nr. 73, Bezold, II, S. 458. * Ebenso Seydel, Comm., S. 357. 
2 Sten. Ber. S. 616.
	        
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