Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

8 53. Militärstrafrecht und Militärstrafverfahren. 571 
IV. (Militär-)Gerichtliches Strafverfahren. 
§ 39 des Reichs-Militärgesetzes vom 2. Mai 1874 bestimmt in Abs. 1: „Die 
besondere Gerichtsbarkeit über Militärpersonen beschränkt sich auf Strafsachen und 
wird durch Reichsgesetz geregelt.“ Dieses Gesetz erging als Militärstrafgerichts- 
ordnung vom 1. Dezember 1898 (R.-G.-Bl. 1898, S. 1189). Diese tritt (§ 1 
des Einführungsgesetzes vom 1. Dezember 1898, R.-G.-Bl. 1898, S. 1289) an 
einem durch Kaiserliche Verordnung mit Zustimmung de2 Bundesraths fest- 
zusetzenden Tage, spätestens am 1. Januar 1901, in Kraft, in Bayern und 
Württemberg (§ 33 daselbst) nach näherer Bestimmung der Bündnißverträge vom 
23. bezw. 21./25. November 1870. Mit dem Tage des Inkrafttretens der Militär- 
strafgerichtsordnung treten (§ 2 des Einführungsgesetzes) für die Strafsachen, deren 
Entscheidung nach den Bestimmungen der Militärstrafgerichtsordnung zu erfolgen 
hat (das sind im Wesentlichen alle Strafsachen, siehe weiter unten), alle im Reichs- 
gebiete geltenden militärstrafproceßrechtlichen Vorschriften, auch diejenigen 
über die Bestrafung der Fahnenflüchtigen im Wege des Ungehorsams-(Contumacial-) 
Verfahrens), außer Anwendung. Andere straf= oder proceßrechtliche Vorschriften 
der Reichs= und Landesgesetze, z. B. § 61 des Strafgesetzbuchs (Antrag), die Vor- 
schriften über das Militärdisciplinarstrafrecht mit Einschluß des darauf 
bezüglichen § 3 des Einführungsgesetzes zum Militär-Strafgesetzbuch 1, sowie die 
Vorschriften über die Ehrengerichte für Officiere bleiben unberührt. § 2, Abs. 3 
des Einführungsgesetzes zur Militärstrafgerichtsordnung läßt auch die Vorschriften 
unberührt, durch welche die Mitglieder des Landgendarmeriecorps der Militärstraf- 
gerichtsordnung unterstellt sind, mit dem Hinzufügen, daß die Landgendarmen, so- 
weit sie danach der Militärstrafgerichtsbarkeit unterstehen, im Sinne der Militär- 
strafgerichtsordnung als Personen des Soldatenstandes des activen Heeres gelten. 
Die Organisation der Landgendarmerie steht den einzelnen Bundesstaaten zu. In 
Preußen, Baden, Hessen und Elsaß-Lothringen ist diese Organisation zur Zeit eine 
militärische, dergestalt also, daß ihre Mitglieder sowohl den Militärstrafgesetzen wie 
der Militärstrafgerichtsbarkeit unterstellt sind. Hinsichtlich der Ausübung der 
Strafgerichtsbarkeit über Kriegsgefangene und Ausländer in Kriegszeiten und bei 
kriegerischen Unternehmungen können die Bestimmungen der Militärstrafgerichts- 
ordnung über Bildung der Militärgerichte und das Verfahren durch Kaiserliche 
— abgeändert werden (§ 1 des Einführungsgesetzes zur Militärstrafgerichts- 
ordnung). 
Die Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 tritt an Stelle der 
preußischen vom 3. April 1845 — welche für das ganze preußische und das sächsische 
Contingent eingeführt war? —, der bayerischen vom 29. April 1869 und der 
württembergischen vom 20. Juli 1818. Sie unterscheidet sich namentlich von der 
preußischen hauptsächlich durch folgende neun Umstände: 1) sie führt statt des 
schriftlichen mündliches Verfahren ein (88 260, 273, 372, 390, 400 a. a. O.), 
2) trennt die Stellung des Richters, Anklägers und Vertheidigers (§§ 10, 33, 34, 
217, 258, 260, 261, 330, 349, 390 a. a. O.), giebt 3) freie Beweiswürdigung 
(§ 315), gewährt 4) formelle Rechtsmittel (Beschwerde, Berufung, Revision), 
5) schreibt vor (§ 18), daß die erkennenden Gerichte unabhängig und nur dem Ge- 
setze (nicht den Anweifungen des Contingents= und Gerichtsherrn) unterworfen sind 
und 6) über Schuld wie Strafe zu entscheiden haben, 7) läßt eine Verständigung 
in weitem Umfange zu (§8§ 256, 337 ff., 389), 8) führt Oeffentlichkeit der Haupt- 
verhandlung (als Regel) ein (§§ 282 ff.) und sichert 9) durch die Einsetzung des 
Reichsmilitärgerichts (§§ 71 ff.) für die Verhandlung und Entscheidung über das 
Rechtsmittel der Revision die übereinstimmende Anwendung und Auslegung der 
Gesetze. Von dem allgemeinen Strafprocesse unterscheidet sich das Militärstraf- 
gerichtsverfahren hauptsächlich dadurch, daß die Erhebung der Anklage im alleinigen 
Ermessen des Gerichtsherrn liegt, daß die meisten und gerade die militärischen 
1 Oben S. 566. 8Siehe oben § 46. 
 
	        
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