Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

656 Neuntes Buch. Die Reichsbeamten und die Reichsbehörden. 
Disciplinarverfahren eingeräumt“! (§ 77). Das im gerichtlichen Verfahren er- 
gehende Urtheil ist zu Gunsten und zu Ungunsten des Angeschuldigten auch für das 
Disciplinarverfahren maßgebend 2. Eine Verfügung der Staatsanwaltschaft, das 
Verfahren einzustellen, hat die gleiche Wirkung nicht, wohl aber der Gerichts- 
beschluß, das Hauptverfahren nicht zu eröffnen (§ 202 in Verbindung mit § 210 
der Strafprozeßordnung). Wenn auf Grund neuer Thatsachen und Beweismittel? 
sich eine andere Ansicht geltend machen sollte, müßte die Disciplinarbehörde die 
Staatsanwaltschaft unterrichten und deren Schritte abwarten. Sonst wäre ein Be- 
amter, gegen den das Hauptverfahren eröffnet und der im Hauptvoerfahren frei- 
gesprochen ist, besser gestellt als ein Beamter, gegen den nach Ansicht des Ge- 
richts kein Grund zur Eröffnung des Hauptverfahrens vorliegt. Nur soweit die 
vom Gerichte gewürdigten Thatsachen „ohne ihre Beziehung zu dem gesetzlichen 
Thatbestande der strafbaren Handlung, welche den Gegenstand der Untersuchung 
bildete“, ein Dienstvergehen enthalten, kann wegen ihrer noch ein Disciplinar= 
verfahren stattfinden. Z. B. ein Beamter ist wegen Nothzucht freigesprochen, weil 
das Moment der Gewalt verneint wurde, es steht aber, wenn er verheirathet war, 
Ehebruch fest. 
Das Disciplinarverfahren ist theils ein summarisches, theils ein förmliches 
(ein gerichtliches); ersteres findet statt, wenn es sich von Anfang an um Ordnungs- 
strafen handelt, letzteres, wenn Strafversetzung oder Strafentlassung beabsichtigt 
wird. Zu Warnungen und Verweisen ist jeder Dienstvorgesetzte gegen die ihm 
untergeordneten Reichsbeamten befugt (§ 80). Geldstrafen (§ 81) können 1) von 
der obersten Reichsbehörde gegen alle Reichsbeamte, und zwar bis zum Betrage des 
einmonatlichen Diensteinkommens, 2) von den derselben untergeordneten Behörden 
und Vorstehern von Behörden bis zum Betrage von 30 Mark, 3) von den den 
letzteren untergeordneten Behörden bis zum Betrage von 9 Mark verhängt werden. 
Vor der Verhängung muß sich der Beamte in irgend einer Weise"“ verantworten 
können. Die Verhängung hat unter Angabe der Gründe schriftlich zu erfolgen 
(§ 82, Abs. 1 und 2). Nicht als Ordnungsstrafe gilt in diesem Sinne, d. h. es 
bedarf nicht der zuvorigen Anhörung, wenn eine für den Fall der Nichterledigung 
eines Dienstgeschäftes angedrohte Geldesog. Executiv-sstrafe festgesetzt wird (§ 82, 
Abs. 3). Gegen die Verhängung von Ordnungstalso gewiß auch von sog. Executiv-sstrafen 
findet nur Beschwerde im Instanzenwege statt. Diese Beschwerde ist an Fristen 
und Formen nicht gebunden; die höhere Instanz kann auf Beschwerde oder von 
Amtswegen in pejus reformiren. 
Für die Entfernung aus dem Amte ist ein förmliches, aus einer schriftlichen 
Voruntersuchung und einer mündlichen Verhandlung bestehendes Verfahren noth- 
wendig (§§ 84 bis 124). Für die Landesbeamten in den Schutzgebieten ist ein 
besonderes summarisches Verfahren vorgeschrieben (Verordnung, betreffend die Rechts- 
verhältnisse der Landesbeamten in den Schutzgebieten, vom 9. August 1896, 
R.-G.-Bl. 1896, S. 691, Art. 8). Zunächst ist ein untersuchungsführender Richter 
und ein Staatsanwaltsvertreter zu bestellen (§ 85). Der Untersuchungsführer 
hat den Angeschuldigten in der Voruntersuchung, wenn dieser auf Ladung erscheint, 
und die Zeugen schriftlich zu vernehmen, letztere auch, und zwar schon in der Vor- 
untersuchung, zu vereidigen 5. Die 8§§ 157 ff. des Gerichtsverfassungsgesetzes finden 
1 Motive S. 74. * In den Motiven S. 75 ist aber gesagt: 
* Vgl. § 78 des Reichsbeamtengesetzes, Erk.], Ueber die Beweisaufnahme, namentlich die Ver- 
des Reichs-Disciplinarhofes vom 1. April 1874 nehmung von Zeugen, deren Vorladung, Zwang 
im Reichs-Centr.-Bl. 1874, S. 143, Erk. des zum Erscheinen und Beeidigung, werden die ge- 
Oberverwaltungagericht vom 31. Oktober 1891, wöhlichen Regeln des Strafverfahreèns gelten 
Entsch. Bd. XXII, S. 429 ff. Der Reichs-Dis= müssen.“ Es gelten die entsprechenden Vor- 
ciplinarhof (R.-C.-Bl. 1874, S. 143) und das schriften der Strafprozeßordnung; s. auch Löwe, 
preußische Staatsministerium nehmen in fester Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich, 
Praxis dagegen an, daß das verurtheilende Anm.6 zu § 51; s. auch Oppenhoff's Recht- 
Erkenntniß den Disciplinarrichter nicht bindet. # sprechung des Ober-Tribunals in Straff., VII, 
: Vgl. indeß Erk. des Reichsgerichts vom S. 315, XIV, S. 522, XV, S. 18, XVI, S. 575. 
S Nenuar 1886, Entsch. in Straß. Bd. XIII, Entsch. des Reichsgerichts in Straff., X, S. 429, 
4 Sten. Ber. S. 703, 704, 915. «’« 
  
 
	        
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