8 59. Die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten. 657
nur auf bürgerliche Rechtsstreitigkeiten und auf das gerichtliche Strafverfahren An-
wendung, also nicht auf das Disciplinarverfahren. Ob in einem anderen, also
z. B. Disciplinarverfahren Rechtshülfe zu leisten ist, hängt bei Behörden ver-
schiedener Bundesstaaten von den etwa bestehenden Staatsverträgen, bei Be-
hörden desselben Bundesstaates von den landesgesetzlichen Bestimmungen ab!.
Die landesgesetzlichen Bestimmungen müssen auch deshalb Anwendung finden,
weil Überall, wo reichsgesetzliche Vorschriften fehlen, nach § 19 des Reichs-
beamtengesetzes diejenigen Bestimmungen gelten, welche an den Wohnorten für die
activen Staatsbeamten gelten. Nach dem in Preußen geltenden Rechte aber find
die Gerichte verpflichtet, Requisitionen der Disciplinarbehörden auf zeugeneidliche
Vernehmungen Folge zu leisten 2. Daran ist also durch die Reichsgesetze nichts
geändert 5. Die geladenen Zeugen find verpflichtet, zu erscheinen und ihre Aus-
sage zu beeidigen, wenn solches landesgesetzlich — wie in Preußen — vor-
geschrieben ist. Die Vorschriften der Reichs-Strafprozeßordnung kommen selbst
subsidiär nicht zur Anwendung. Ueber jede Untersuchung ist (§ 85) ohne Zu-
ziehung von Staatsanwaltschaft und Angeschuldigten durch einen vereideten Protokoll-
führer ein Protokoll aufzunehmen. Nach Abschluß der Voruntersuchung ist dem
Angeschuldigten der (wesentliche) Inhalt der erhobenen Beweismittel mitzutheilen;
darauf werden die Acten an die oberste Reichsbehörde eingesendet (§ 97). Diese
hat durch Beschluß das Verfahren einzustellen oder eine Ordnungsstrafe zu ver-
hängen oder die Sache vor die Disciplinarkammer zu verweisen. Im ersteren Falle
hat der Angeschuldigte ein Recht auf Zufertigung des Beschlusses nicht". Beschließt
die oberste Reichsbehörde die Verweisung der Sache vor die Disciplinarkammer, so
wird der Angeschuldigte nach Eingang einer von dem bestellten Staatsanwalt an-
gefertigten Anschuldigungsschrift unter abschriftlicher Mittheilung der letzteren zur
mündlichen Verhandlung vorgeladen (§ 101), Der Angeschuldigte kann sich des
Beistandes (nur) eines Rechtsanwaltes (keiner anderen Person) bedienen; dem Ver-
theidiger, nicht ihm selbst, ist die Einsicht der Acten gestattet. Die (in der Regel
öffentliche) mündliche Verhandlung kann auch in Abwesenheit des Angeschuldigten
stattfinden, dessen perfönliches Erscheinen, wenn er seinen dienstlichen Wohnsitz im
Deutschen Reiche hat, unter der Warnung verordnet werden kann, daß bei seinem
Ausbleiben ein Vertheidiger zu seiner Vertretung nicht zugelassen wird (§ 102). Die
Entscheidung hierüber wie über den Ausschluß der Oeffentlichkeit ist in das Er-
messen des Gerichtshofes gestellt.
In erster Instanz fungiren die Disciplinarkammern, in zweiter der Disciplinar=
hof (§ 86). Letzterer tritt am Sitze des Reichsgerichts zusammen. Jede Disciplinar-
kammer besteht aus sieben Mitgliedern. Der Präsident und wenigstens drei andere
Mitglieder müssen in richterlicher Stellung in einem Bundesstaate sein. Der
Bundesrath wählt die Mitglieder und der Kaiser ernennt fie. Zuständig ist die
Kammer, in deren Bezirk der Angeschuldigte seinen dienstlichen Wohnsitz hat oder, wenn
es ein Wartegeldempfänger ist, diesen gehabt hat; lag der dienstliche Wohnsitz außer-
halb des Deutschen Reiches, so entscheidet die Disciplinarkammer in Potsdam (8§ 88).
Die mündliche Verhandlung und Entscheidung erfolgt durch fünf Mitglieder. Der
Vorsitzende und mindestens zwei Mitglieder müssen zu den richterlichen Mitgliedern
gehören (§ 89). Auf Antrag des Staatsanwalts oder des Angeschuldigten kann
wegen Verdachts der Befangenheit der Disciplinarhof eine andere Kammer bestellen. Die
entsprechenden Vorschriften der Strafprozeßordnung §§ 24 ff. bezüglich der Befangenheit
bleiben außer Anwendung. In Ausführung des § 92 des Reichsbeamtengesetzes hat
1 Der Beschluß des Reichsger. vom 21. Ok-
tober 1889, Entsch. in Straff., Bd. XIX, S. 438,
verneint die Anwendbarkeit des § 160 des Gerichts-
verfassungsgesetzes auf Fälle der vorliegenden Art.
* Vgl. die Entsch. des Ober-Tribunals in
Goltdammer's Archiv, Bd. IX, S. 57, 487,
Bd. XIV, S. 486, Oppenhoff, Rechtsprechun
des Ober-Tribunals in Straff., Bd. II, S. 24
Arndt, Das Staatzrecht des Deutschen RNeiches.
und 408, Bd. VII, S. 315, Bd. XIV, S. 523,
Bd. XV, S. 18, Bd. XVI, S. 575.
2 Anderer Ansicht Pieper, S. 251 f., 268.
4 Im gewöhnlichen Strafverfahren müßte
ihm allerdings von der Einstellung Kenntniß
gegeben werden Straffrezeßordnung. § 195,
196); anderer Ansicht Pieper, S. 272.
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