Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

8 60. Der Reichskanzler. 683 
die Ausführungen des Etatsgesetzes durch die Militärbehörden wie über die Aus- 
führung der Reichssteuer= und Zollgesetze durch die Landesfinanzbehörden. Ueber die 
Art, wie in Ansehung dieses Aufsichtsrechts kaiserliche Anordnungen und Ver- 
fügungen ergehen, ist der Reichskanzler verantwortlich. Doch ist der Reichskanzler 
nicht berechtigt, die Militär= und Finanzbehörden der Bundesstaaten zu leiten, 
ihnen Anweisungen zu ertheilen, und er ist auch für die Handlungen und Unter- 
lassungen dieser Behörden, auch wenn fie (zugleich) als Reichsbehörden fungiren, 
insoweit verantwortlich, als es sich um die Ausübung des kaiserlichen Aufsichts- 
rechts handelt. 
Es ist aber ein nicht geringer Irrthum, zu glauben, daß es außerhalb des 
Rahmens des Art. 17 keine Verantwortlichkeit giebt. Vielmehr kommt für alle 
Reichsbeamten, die unmittelbaren wie die mittelbaren, § 13 des Gesetzes, betreffend 
die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten, vom 81. März 1873 (R.--G.-Bl. 1873, 
S. 61) zur Anwendung 1: „Jeder Reichsbeamte ist für die Gesetzmäßigkeit seiner 
amtlichen Handlungen verantwortlich.“ Der Reichskanzler ist also dafür verant- 
wortlich, daß der Bundesrathsbeschluß so lautet, wie er von ihm publicirt oder 
dem Kaiser zur Verkündigung von ihm vorgelegt ist, daß er die Geschäfte der 
Reichs-Bank-, -Post-, Telegraphenverwaltung u. s. w. den Gesetzen gemäß führt. Er 
haftet dabei nicht bloß für dolus und culpa lata, sondern wie jeder andere Reichsbeamte 
für jedes Versehen, auch für Gesetzesunkenntniß?, und nur ausnahmsweise kann 
er sich durch Rechtsirrthum exculpiren 3. Ebenso ist der preußische Kriegsminister 
für die Befolgung des Etatsgesetzes verantwortlich, also dafür, daß er nicht zuviel 
verausgabt, keine Fondsverschreibungen, keine Vorausgriffe, keine unzulässige Rest- 
verwaltung führt, keine unstatthaften Ersparnisse macht"“. Ganz gewiß haften 
Regiments= und Bataillonscommandeure für unstatthafte Freiheitsentziehungen, 
Mißhandlungen und Beleidigungen. 
Nun kennt die Reichsverfassung nur den Reichskanzler selbst, ohne etwas von 
seinen Gehülfen und Beamten vorzuschreiben. Nur in Bezug auf seine Stellvertretung 
findet sich eine Vorschrift in Art. 15, wonach sich der Reichskanzler durch jedes andere 
Mitglied des Bundesrathes vermöge schriftlicher Substitution vertreten lassen kann. 
Diese Vorschrift bezieht sich nur auf die Stellvertretung im Vorsitz des Bundesraths, 
nicht in seinen sonstigen Geschäften. Dies kann heute als unbedingt feststehend gelten 
und der dagegen oft erhobene Einspruch nach Erlaß des sog. Stellvertretungsgesetzes vom 
17. März 1878 als nicht mehr belangvoll angenommen werden 5. Für die hier vertretene 
Ansicht spricht außerdem an den angezogenen Stellen Angeführten noch der Umstand, 
daß, wenn sich der Art. 15 der Reichsverfassung auf jede Stellvertretung des Reichs- 
kanzlers beziehen würde, zu verlangen wäre, daß, wer immer Verwaltungsgeschäfte 
des Reiches in auswärtigen (Gesandtschafts= und Konsular-), in Post= und Tele- 
graphenangelegenheiten führt, ein Bundesrathsmitglied sein müßte. Man wird auf 
das preußische Staatsrecht zurückgehen müssen, wenn man feststellen will: was 
kann der Reichskanzler ohne besondere kaiserliche Ermächtigung thun, zu welchen 
Handlungen bedarf er dieser Ermächtigung und wann kann er sich durch ihm unter- 
stellte Organe vertreten lasseno? In Preußen beruht die Ministerialverfassung 
auf der Königlichen Verordnung über die veränderte Verfassung der obersten 
Staatsbehörden 2c. vom 27. Oktober 1810 (G.-S. 1810, S. 3). An der Spitze 
eines jeden obersten Verwaltungsdepartements steht ein Minister als Chef desselben. 
  
S. 351, Zorn, Staatsrecht, I., S. 252, Arndt, 
1 Allerdings handeltes sich bei dieser Vorschrift 
i Komm., Anm. 3 zu Art. 15 und Anm. 6 zu 
nicht um die politische Verantwortlichkeit. 
2 Vgl. das Erk. des Reichger- vom 2. November 
1882 in Gruchot's Beiträgen, Bd.XXVIII, S.70. 
2 Erk. des Reichsger. vom 24. Sept. 1885 
und 26. November 1888 in Gruchot's Beiträgen, 
Bd. XXX, S. 137, und Bd. XXXIII, S. 1117. 
4 S. oben S. 426 f. 
1 az# Entsch, des Reichsgerichts in Straff., 
Bd. VII, S. 382, Hänel, Organisatorische 
Entwickelung der deutschen Reichsverfassung, 
  
Art. 17, Seydel, Comm. zu Art. 15, S. 170, 
und in v. Holtzendorff's Jahrb., Neue Folge, 
Bd. III, S. 294, P. Laband, Staatsrecht, 1, 
l.40, S. 340, Rosenberg, S. 837.44 u. A. m., 
während Fürst Bismarck am 5. März 1878 
(Sten. Ber. des Reichstages S. 342 f.), Joöl, 
u. A. in Hirth's Annalen 1878, S. 402 ff., 
794 f., und P. Hensel, ebendort 1882, S. 2 ff., 
die entgegengesetzte Ansicht aussprechen.
	        
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