Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

686 Neuntes Buch. Die Reichsbeamten und die Reichsbehörden. 
vertretung dabei der Reichsverfassung nicht als zulässig erschien. Man wollte, daß 
der Reichskanzler in Person, nicht ein Staatssekretär,„, Director oder vortragender 
Rath dem Bundesrath und dem Reichstage für die kaiserlichen Anordnungen und 
Verfügungen verantwortllch sein sollte. Während nun in Preußen eine jede Ver- 
tretung in der Gegenzeichnung unstatthaft ist, läßt das Gesetz, betreffend die Stell- 
vertretung des Reichskanzlers, vom 17. März 1878 (R.-G.-Bl. 1878, S. 7) eine 
solche zu. § 1: „Die zur Gültigkeit der Anordnungen und Verfügungen des 
Kaisers erforderliche Gegenzeichnung! des Reichskanzlers (sowie die sonstigen dem- 
selben durch die Verfassung und die Gesetze des Reichs übertragenen Obliegenheiten) 
können nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen durch Stellvertreter wahr- 
genommen werden, welche der Kaiser auf Antrag des Reichskanzlers im Falle der 
Behinderung desselben ernennt.“ § 2: „Es kann ein Stellvertreter allgemein für 
den gesammten Umfang der Geschäfte und Obliegenheiten des Reichskanzlers ernannt 
werden. Auch können für diejenigen einzelnen Amtszweige, welche sich in der 
eigenen und unmittelbaren Verwaltung des Reichs befinden, die Vorstände der dem 
Reichskanzler untergeordneten obersten Reichsbehörden mit der Stellvertretung des- 
selben im ganzen Umfang oder in einzelnen Theilen ihres Geschäftskreises beauftragt 
werden.“ § 3: „Dem Reichskanzler ist vorbehalten, jede Amtshandlung auch während 
der Dauer einer Stellvertretung selbst vorzunehmen.“ § 4: „Die Bestimmung des 
Artikel 15 der Reichsverfassung wird durch dieses Gesetz nicht berührt.“ 
Die Stellvertreter in der Contrafignatur können dem Reichskanzler nur auf 
seinen Antrag bestellt, ihm also nicht „aufgedrängt“ werden. Ein Behinderungsfall 
kann schon in dessen großer Arbeitslast gefunden werden. Trotz der Zulässigkeit der 
Stellvertretung auch in der constitutionellen Gegenzeichnung bleibt „die allgemeine, 
sozusagen historisch-politische Verantwortlichkeit für den ganzen Gang der Verwaltung, 
für die Einheitlichkeit derselben, für die Auswahl der Personen beim Reichskanzler“. 
Die Stellvertreter des Reichskanzlers in der Gegenzeichnung, selbst wer zur generellen 
Gegenzeichnung und zur generellen Stellvertretung ermächtigt ist, werden nicht dem 
Bundesrath und dem Reichstag verantwortlich; verantwortlich ist und bleibt in 
allen Fällen nur der Reichskanzler. Die Stellvertreter trifft nicht die coustitutionelle, 
nicht die historisch-politische, sondern nur die allgemeine, jedem Reichsbeamten nach 
§ 13 des Reichsbeamtengesetzes obliegende Verantwortlichkeit, also nicht die Ver- 
antwortlichkeit für Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit, sondern nur die für Gesetzmäßigkeit“. 
Der Stellvertreter hat die Unterschrift nicht zu ertheilen, wenn ihm dies der 
Reichskanzler verbietet, und er darf sie nicht versagen, wenn sie ihm befohlen wird. 
Handelt der Stellvertreter gegen die ihm aufgetragenen Befehle des Reichskanzlers, 
so verletzt er die Pflichten, welche das Amt ihm auferlegt, und hat die Disciplinirung 
zu gewärtigen. Für die Verwaltungen, welche für das Reich von den Einzelstaaten 
geführt werden, z. B. für die Militär= und Zollverwaltung, hat der Reichskanzler 
keine Gegenzeichnung und keine Verantwortlichkeit. Folglich kann bezüglich dieser 
Verwaltungszweige, die sich nicht in der eigenen und unmittelbaren Verwaltung 
des Reiches befinden, auch kein zur Gegenzeichnung ermächtigter Stellvertreter 
  
kann kein Zweifel daran bestehen, daß eine 
Stellvertretung in der Contrafignatur des Reichs- 
kanzlers nur in den Fällen und nach Maßgabe 
1 d Gegensate ur ratio des Gesetzes, zum 
hrepbi chen Recht und zur klaren Intention des 
rt. 17 der Reichsverfassung wird die Anficht 
vertreten, daß der Kaiser auch ohne Specialgesetz 
befugt gewesen wäre, einen Stellvertreter des 
Reichskanzlers zu bestellen und mit dem Rechte 
der verantwortlichen Contrasignatur auszustatten; 
so von Georg Meyer, Staatsrecht, § 135, 
S. 417, Fürst Bismarck in der Reichstags- 
sizung am 5. März 1878 (Sten. Ber. S. 343), 
indthorst in der Reichstagssihung am 
18. April 1877 (Sten. Ber. S. 427), während 
die im Texte vertretene Ansicht u. A. von Hänel 
und v. Bennigsen am 13. April 1877 (Sten. 
Ber. S. 419 und 422), Beseler am 9. Juli 
1879 (Sten. Ber. S. 2191) vertheidigt wurde. 
Nach Erlaß des Gesetzes vom 17. März 1878 
  
dieses Gesetzes, nicht schlechthin und allgemein 
statthaft ist. 
b hidet eingeklammerte Satz war rechtlich ent- 
ehrlich. 
*s Worte v. Bennigsens's in den Sten. 
Ber. des Reichstages 1878, S. 331. 
*4 Vgl. indeß Sten. Ber. des Reichstages 1878, 
S. 322, 331, 346, 389, 407, 409, Joêl, in 
irth's Annalen 1878, S. 781 f., G. Meyer, 
Staatsrecht, § 135, S. 419. Letzterer spricht 
die Ansicht aus, daß die Stellvertreter die Ver- 
antwortlichkeit in demselben Umfange wie der 
Reichskanzler tragen.
	        
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