Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

6 62. Allgemeines, Staatsverträge. 709 
schuldigen pflegte, wenn sie die Genehmigung erst nach der Ratification nachsuchte. 
Jedenfalls find zahlreiche Staatsverträge vor ihrer Genehmigung durch den Landtag 
in Wirksamkeit getreten 1. Erheblich ist nur, ob der Vertrag, bevor er die Ge- 
nehmigung des Landtages erhalten hat, in thatsächlicher und rechtlicher Geltung stand, 
unbeschadet der Pflicht der Regierung, seine Genehmigung hinterher nachzusuchen. 
Man muß sogar behaupten, daß der Vertrag, auch wenn die erforderliche 
Genehmigung der Kammern noch nicht stattgefunden hat und selbst wenn sie unter- 
blieben ist, gleichwohl dem Auslande wie dem Inlande gegenüber gültig ist, der- 
gestalt, daß in keinem Falle eine „Spaltung“" der Gültigkeit stattfindet, un- 
beschadet allerdings des Umstandes, daß der König, wenn er nicht verfassungswidrig 
handeln will, hinterher die Genehmigung des Landtages nöthig hat, oder noch 
anders ausgedrückt, daß der König nur im sicheren Vertrauen auf die nachträgliche 
Genehmigung und eventuell auf die Gefahr hin, verfassungswidrig zu handeln, 
einen Vertrag der in Rede stehenden Art allein abschließen kann. Würde die Ver- 
fassung haben sagen wollen, daß die Wirksamkeit des Vertrages von der zuvorigen 
Genehmigung des Landtages abhängt, so hätte fie gesagt und sagen müssen, nicht 
daß der König die Verträge errichtet, sondern daß er in Gemeinschaft mit den 
Kammern Verträge errichtet, oder daß (im Sprachgebrauche der damaligen Zeit) 
die vertragschließende Gewalt vom Könige gemeinschaftlich mit dem Landtage aus- 
geübt wird (es sei denn, daß es sich um Verträge handelt, deren Inhalt nicht in 
den Bereich der Gesetzgebung fällt) oder daß Verträge nur auf Grund eines Gesetzes 
abgeschlossen werden können. Letztere Wendung hätte doch in Anbetracht des fran- 
zösischen Rechts und der sonstigen Ausdrucksweise der preußischen Verfassung überaus 
nahegelegen. Oder endlich hätte die preußische Verfassung im Anschlusse an die 
württembergische Verfassungsurkunde vom 25. September 1819 lauten können: 
§ 85: „Der König vertritt den Staat in allen seinen Verhältnissen gegen aus- 
wärtige Staaten. Es kann jedoch ohne Einwilligung der Stände durch Verträge 
mit Auswärtigen kein Theil des Staatsgebiets und Staatseigenthums veräußert, 
keine neue Last auf das Königreich und dessen Angehörige übernommen und kein 
Landesgesetz abgeändert oder aufgehoben werden.“ Aus allen diesen Gründen ent- 
hält die Einschränkung im Art. 48 der preußischen Verfassung nur eine interne Be- 
schränkung der königlichen Gewalt und keine theilweise Negirung ihrer Legitimation, 
nach außen hin den Staat zu vertreten. Eine solche Negirung ihrer Legitimation 
wäre zur Zeit der Verleihung und Revifion der Verfassung der preußischen Krone 
sicher nicht angesonnen, noch weniger von ihr anerkannt worden. 
Da nun Art. 48 der preußischen Verfassung die Vertragsbefugniß giebt, so 
liegt in der Publication eines Vertrages durch die Krone ohne Weiteres, daß der 
Vertrag von Allen, die es angeht, zu befolgen ist. Eines besonderen Befehles be- 
darf es im Hinblick auf Art. 48 nicht, nur der Kundgebung, daß der Vertrag von 
der Krone ratificirt ist. Solches ist, mag man das Verfahren theoretisch als 
mangelhaft bezeichnen, in der Praxis nie bezweifelt worden. Ein vom Könige 
allein abgeschlossener und in der Gesetzsammlung verkündeter Vertrag hat die 
Rechtswirksamkeit einer in der Gesetzsammlung verkündeten Königlichen Verordnung, 
ein vom Könige abgeschlossener und von dem Landtage genehmigter Vertrag erlangt 
durch die Verkündung in der Gesetzsammlung die Wirksamkeit eines Gesetzes. Die 
Prüfung ihrer Gültigkeit steht in beiden Fällen gemäß § 106, Abs. 2 der Ver- 
fassung weder den Behörden noch den Unterthanen, sondern nur den Kammern zu. 
Wenn hiergegen geltend gemacht ist?, daß die Anwendbarkeit der Vorschrift in 
Art. 106 einen besonderen königlichen Befehl zur Befolgung voraussetze, so ist zu 
erwidern, daß die verbindliche Kraft des Vertrages sich auch ohne den besonderen 
Befehl ipso jure aus Art. 48 der preußischen Verfassung ergiebt, und daß, selbst 
wenn man Art. 106 nicht auch auf die vom Könige in der Gesetzsammlung ver- 
kündeten Verträge beziehen wollte, schon wegen der im Art. 48 gegebenen Vorschrift 
vom Könige ratificirte und als folche bekannt gegebenen Verträge für Jedermann 
  
  
1 v. Rönne, Gneist l. c. e bur me Preuß. Staatsrecht, 4. Aufl.,
	        
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