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Gesetze näher zu bestimmen, Recht sprechen zu
lassen, das Unrecht zu bestrafen und das Recht
zu beschützen durch die ihm von Gott übertragene
Gewalt. Aber ein Recht, namentlich ein Natur-
recht, gab es schon vor dem Staate; und der
Staat kann nicht nach Willkür, sondern nur als
Stellvertreter Gottes unter den von Gott gestellten
Bedingungen positive Rechtsgesetze erlassen, das
Richteramt üben und die Strafe verhängen. Er
kann nicht mit seiner Gewalt das Recht schaffen;
Gewalt geht nicht vor Recht. Die Gewalt ist dem
Staate von Gott nur als eine Zutat zum Recht
übertragen. Daher ist im Syllabus Pius' IX.
die 39. These mit Recht verworfen: „Der Staat
besitzt als der Ursprung und die Quelle aller
Rechte ein schrankenloses Recht“ (Denzinger, En-
chiridion I161908] Nr 1739).
Ganz besonders ist daher das schon bezeichnete
Verhältnis des Naturrechts zu dem vom Staate
gegebenen positiven Gesetze zu beachten. Es
ist nicht richtig, wenn man das Naturrecht bloß
als eine Summe von Rechtsideen auffaßt, denen
der Charakter eines eigentlichen und vollständigen
Rechts nicht zukomme. Das Naturrecht enthält
zwar auch die Keime für alle positiven Rechts-
normen, allein es ist auch selbst eine Rechtsnorm
im eigentlichen Sinne, die ihre Gültigkeit schon
vor dem positiven Gesetze hatte, neben demselben
behält und in Streitfällen sogar einen Vorrang
vor letzterem behauptet. Alle positiven Rechts-
normen verlieren ihre Gültigkeit und ihren ver-
pflichtenden Charakter, sobald sie mit dem von
Gott unserer Natur mitgegebenen Naturrecht
in Widerspruch kommen. Es gab sogar nicht nur
ein Natur-, sondern auch ein gewisses positives
Recht schon vor dem Staate. Denn man teilt
richtig nicht nur das Recht im objektiven Sinne,
sondern auch die Rechte im subjektiven Sinne in
Natur= und positive Rechte, je nachdem die Be-
rechtigung an dem betreffenden Objekte schon aus
der Natur des letzteren, wie dies namentlich bei
den Objekten der Persönlichkeitsrechte, z. B. der
Rechte auf das Leben, auf die Gesundheit, auf die
Pflichterfüllung u. a., zutrifft, oder durch den freien
Willen eines andern, eines Vorgesetzten oder
Gleichgestellten, übertragen worden ist. Die letzt-
genannten Rechte werden im Gegensatze zu den
angebornen auch jura adventitia genannt. Je-
denfalls erhellt, daß die von Gleichgestellten etwa
durch Verträge oder Willenserklärungen über-
tragenen Rechte schon vor und unabhängig von
dem Staate vorhanden waren. Dem Staate ob-
liegt vornehmlich die Aufgabe, das Naturrecht in
richtiger Weise und den Bedürfnissen der Sozietät
gemäß durch positive Gesetze zu entwickeln, für das
allgemeine Wohl (bonum commune) zu sorgen
und das Recht mit der Gewalt zu schützen. —
Vgl. d. Art. Naturrecht und Rechtsphilosophie.
v. Hertling, Kleine Schriften zur Zeitgeschichte u.
Politik (1887) 168 ff; Gutberlet, Ethik u. Natur-
recht (6/1901) 123 f; F. K. Funk, Recht u. Moral
Gerichtsbarkeit, freiwillige.
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in Bezug auf das Wirtschaftsleben (Tüb. Theol.
OQuartalschrift 1869, 400 ff).
Literatur. Thomas von Aquin, Summa theol.
2, 2, q. 58/61; Molina, De iustitia (1602); Kard.
de Lugo, Disp. de iustitia (1718); J. E. Pru-
ner, Die Lehre vom Recht u. von der G. 1 (1857);
J. Schwane, Die G. (1873); Marres, De iustitia
(1889); A. Vermeersch, Quaestiones de iustitia
(Brügge 1904). lSchwane, rev. Pohle.)
Gerichtsbarkeit, freiwillige, ist die
Mitwirkung staatlich berufener Behörden bei der
Gestaltung nichtstreitiger Angelegenheiten des
bürgerlichen Rechts. Wie die richterlich recht-
sprechende, ist auch die freiwillige Gerichtsbarkeit
eine Art der Rechtsanwendung und in dieser eine
Quelle der Rechtsbildung. Im römischen Recht
auf wenige Rechtsgeschäfte beschränkt, erhöhte sich
ihre Bedeutung in Deutschland infolge des hier
in Blüte stehenden Beurkundungswesens. Dabei
bezog sie sich ursprünglich nur auf diese Seite der
Rechtsübung, indem sie bei dem Abschluß der
Rechtsgeschäfte von den rechtlich möglichen oder
denkbaren Sicherungsmitteln Gebrauch machte,
wodurch sie Gewohnheitsrecht bilden half. In
dieser Begrenzung erscheint sie in der wissenschaft-
lichen Darstellung (iurisprudentia heurematica,
de cautelis) als Erteilung des Unterrichts zur
richtigen und vorsichtigen Eingehung von Ver-
trägen. Anfangs geschah dies durch Formelbücher
(kormulae Marculfi), seit dem 15. Jahrh. durch
Lehrbücher, welche statt der Formeln die Anleitung
zur richtigen Fassung jedes vorkommenden Ge-
schäftsfalles gaben. In ihnen wurde gezeigt, was
in Ansehung der Personen, Sachen und Formen
zu beachten, was im allgemeinen und bei jeder
Gattung von Geschäften besonders zu berücksich-
tigen, was vom Standpunkte des Beweisrechts
überflüssig, notwendig und nützlich sei. Die reichs-
rechtlichen Grundlagen für die freiwillige Gerichts-
barkeit waren die Notariatsordnung von 1512
und die Polizeiordnungen von 1548 und 1577,
welche das Vormundschaftswesen regelten. Von
da ab ging die Gesetzgebung an die Einzelstaaten
über, von denen Preußen in der Allgemeinen Ge-
richtsordnung das ganze damalige Gebiet der
nichtstreitigen Angelegenheiten regelte. Die neuere
Entwicklung des Grundbuch-, Hinterlegungs= und
Vormundschaftswesens, der Registerführung in
Handels-, Muster= und Börsensachen, Genossen-
schafts= und Gesellschaftswesen sowie im ehelichen
Güterrechte hat zu immer weiterer Ausdehnung
des Geschäftskreises der freiwilligen Gerichtsbar-
keit geführt.
Osterreich regelte sein Verfahren in Rechts-
angelegenheiten außer Streitsachen durch Gesetz
vom 9. Aug. 1854, ihm folgten Baden durch
Gesetz vom 28. Mai 1864, Sachsen durch Ver-
ordnung vom 9. Jan. 1865 und Hessen durch
Gesetz vom 5. Juni 1879. In einzelnen Staaten
wurden Notariatsordnungen erlassen. Dazu kamen
Sonderbestimmungen in einzelnen Reichsgesetzen,