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kann daher J. Wolf von einem Chemismus“
der bürgerlichen Wirtschaftsordnung sprechen, der
dahin dränge, ihren unaufhörlichen technisch-
ökonomischen Fortschritt selbsttätig in so-
zialen Fortschritt umzusetzen — eine Anschau-
ung, die freilich bei Wolf weiterhin zu einer Unter-
schätzung dessen geführt hat, was die Selbsthilfe
(die überdies auch als automatisch eintretende
Konsequenz der bürgerlichen Gesellschaft aufgefaßt
werden könnte) und die Macht der staatlichen,
ge= oder verbietenden Intervention leisten.“ Aber
man hüte sich, vom technischen Fortschritte allein
das Heil zu erwarten. Durch ihn kann, wenn er
durch scharfe Konkurrenz angespornt wird, ein Land
des Fabrikatexportes wohl einen wirtschaftlichen
Aufschwung erleben, wie es Deutschlands jüngste
Vergangenheit beweist. Aber es bleibt zu be-
denken, daß wir kein Monopol für unsere Fort-
schritte haben, und daß uns andere Länder, ins-
besondere Nordamerika, in der Fähigkeit, technische
Fortschritte zu machen, keineswegs nachstehen.
„Die Vermehrung, Verbesserung und Kosten-
reduktion der Fabrikate hat auch bei hohem tech-
nischem Fortschritte ihre Grenzen. Die internatio-
nale Konkurrenz drückt Preise und Gewinne. In
seiner Gewinnsucht scheut sich das vaterlandslose-
Kapital aber auch nicht im mindesten, überall, wo
es lohnt, auch beliebig im Auslande, durch Grün-
dung von Betrieben der heimischen Industrie
Konkurrenz zu machen“ (Ad. Wagner, Agrar= u.
Industriestaat (19011 77).
6. Mit einigen Worten ist noch auf das Verhält-
nis von Kapitalismus und Christentum
einzugehen. Die Stellung Christi und seiner Kirche
zum wirtschaftlichen Leben wird bald in sozialisti-
schem bald in kapitalistischem Sinne gedeutet. Der
Sozialismus bezeichnet das Christentum gern als
einen Abfall vom „evangelischen Sozialismus“
und als ein Bollwerk des Kapitalismus. Dem
gegenüber ist es notwendig, zu betonen, daß es
ein ausgesprochenes kirchliches oder christliches
Wirtschaftssystem nicht gibt. Aufgabe und Zweck
des Christentums liegen ja auf einem ganz andern
Gebiete. Es begnügt sich, allgemeingültige Nor-
men auszusprechen, welche das Leben des einzelnen
und der Gesellschaft und darum auch das wirt-
schaftliche Handeln umfassen und beeinflussen
wollen. Geschieht diesen Anforderungen Genüge,
so erhebt es keine weiteren Ansprüche auf eine be-
stimmte Reglung des Wirtschaftslebens.
Der Kapitalismus berührt das sittliche Leben
in mehrfacher Beziehung und birgt Gefahren für
dasselbe in sich. Solche sind die wachsende Ge-
winn= und Genußsucht, welche den Menschen zum
Sklaven einer materialistischen Weltanschauung zu
machen drohen. Das Familienleben ist in mehr-
facher Weise gefährdet (Wohnungsnot, Frauen-
und Kinderarbeit, Geldheirat usw.). Er vernichtet
die wirtschaftliche Selbständigkeit zahlreicher Exi-
stenzen, proletarisiert Tausende und erweckt dadurch
den Haß und Neid der deklassierten Elemente.
Kapital usw.
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Es ist zu sagen: Soweit der Kapitalismus in
Mammonismus, in die rückhaltlose Hingabe an
Erwerb und Genuß ausartet und die sittlichen
Grundsätze der Vernunft und Religion dem Er-
jagen des Gewinnes skrupellos opfert, ist er aller-
dings unchristlich, und insofern muß er fallen.
Es ist undenkbar, daß auf der Grundlage einer
materialistischen Weltanschauung dauernde ge-
sunde Gesellschaftsverhältnisse bestehen. Auf den
sittlichen Geist der Menschen kommt es daher in
erster Linie an. Und darum hat Christus, ohne
„Sozialreformer“ sein zu wollen, so tief in das
soziale Leben eingegriffen, weil sein Wirken darauf
abzielte, die tiefsten und letzten Wurzeln der so-
zialen Mißstände in der Gesinnung der Menschen
zu treffen. In diesem Sinne ist allerdings das
Christentum und die Kirche, wenn man will,
„antikapitalistisch“.
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schaft im 19. Jahrh. (21909); derf., Sozialismus
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Ethik u. Geist des Kapitalismus, im Archiv für
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