Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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der nach vorhergehenden Verhandlungen schließlich 
erfolgenden Willenseinigung sachlich zum Aus- 
druck gebracht. Für die Vertragsmöglichkeit zwi- 
schen Staat und Kirche ist erforderlich und aus- 
reichend, daß beide Teile voneinander unabhängige 
Rechtsgebiete haben, auf die ein Rechtsanspruch 
dem andern Teile nicht zusteht. Es ist dagegen 
nicht erforderlich, daß Staat und Kirche absolut 
und in jeder Beziehung koordiniert seien. Die 
Absicht beider Teile sodann, durch die Verhand- 
lungen eine gegenseitige Bindung herbeizuführen, 
ist so offenkundig, daß man gegenüber dem Ver- 
such, dieses zu leugnen, sagen muß: mit solcher 
Interpretation kann man wohl alle Verträge 
überhaupt aus der Welt schaffen. (Vgl. hierzu 
die zutreffenden Ausführungen Hüblers La. a. O. 
III 281] gegen Sarwey, der jede Absicht des 
Staates, sich zu verpflichten, bestritten hatte.) 
Ganz entsprechend der geschichtlichen Praxis bei 
Abschluß von Konkordaten schreibt Leo XIII. In- 
cidunt autem duandoque tempora, cum alius 
duodue concordiae modus ad tranquillam 
libertatem valet, nimirum, si qui principes 
rerum publicarum et Pontifex Romanus dere 
aliqua separata in idem placitum consenserint 
(Enzykl. Immortale Dei vom 1. Nov. 1885; 
gegen den Versuch, diese klaren Worte in ihrer 
Bedeutung als vertragsmäßige Einigung herab- 
zudrücken, wendet sich mit Recht Cathrein a. a. O. 
II 633). In allerneuester Zeit hat der Apostolische 
Stuhl wiederholt das französische Konkordat als 
Vertrag und das Verhalten der französischen Re- 
gierung als Vertragsbruch bezeichnet. 
6. Aus dem Vertragscharakter der Konkordate 
ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen. Es 
geht nicht an, den Inhalt der Konkordate zu unter- 
scheiden in Vertragsrecht und in päpstliche Privi- 
legien. Durch die Aufnahme in den Konkordats- 
vertrag nehmen selbst materielle Privilegien den 
Charakter von formellem Vertragsrecht an. Gewiß 
enthält jedes Konkordat kirchliche Zugeständnisse, 
auf die der Staat an sich absolut keinen Rechts- 
anspruch hat, aber das liegt ja eben in der Natur 
des Vertrages, daß man dem andern vertrags- 
rechtlich etwas zusichert, auf das er an sich keinen 
Anspruch hat. Weil das Konkordat Vertragsrecht 
ist, steht es auch keinem der beiden Teile zu, ein- 
seitig eine authentische Erklärung des Konkordats 
zu geben. Eine Auflösung des Konkordats kann 
formal rechtlich durch Kündigung seitens eines 
Teiles nur erfolgen, wenn dies ausdrücklich in den 
Vertragsbedingungen vorgesehen ist. Ist letzteres 
nicht der Fall, so ist für Anderung und Auflösung 
des Konkordates der Weg gütlichen Ausgleiches 
geboten. Kommt dieser Ausgleich nicht zu stande, 
so kann trotzdem weder Staat noch Kirche durch 
das Konkordat gebunden sein, wenn durch Fort- 
bestand des Konkordates unter veränderten Ver- 
hältnissen das Lebensinteresse eines Teiles verletzt 
und die Inangriffnahme kirchlicher bzw. staatlicher 
Aufgaben verhindert würde; es müßte in diesem 
Konkordate. 
  
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Falle jedem Teile der einseitige Rücktritt gestattet 
sein. Freilich ist diese Klausel rebus sic stanti- 
bus, die jedem Konkordat stillschweigend beigesetzt 
ist, ein „zweischneidiges Schwert“ (Hübler a. a. O. 
III 434) und „es ist oft recht schwer zu ent- 
scheiden, ob die Durchführung oder Erhaltung des 
durch das Konkordat normierten Rechtszustandes 
wirklich, wie behauptet, unmöglich gewesen, und 
ob wohl gar Staat wie Kirche durch einseitigen 
Rücktritt vom Konkordate nur ein Gebot der 
Selbsterhaltung erfüllt haben“ (Scherer a. a. O. 
1 1, 157). 
Mit der Klausel rebus sic stantibus ist über- 
haupt ein gewisses Moment der Unsicherheit in der 
Geltungsdauer der Konkordate anerkannt. Die 
Folgerung daraus ist jedoch nicht die, daß Kon- 
kordate überhaupt ihren Zweck, dauernde Reg- 
lungen zu schaffen, nicht erreichen könnten. Wohl 
aber ergibt sich aus dieser Einsicht für beide Teile 
beim Abschließen von Konkordaten die Notwendig- 
keit, sich selbst zu bescheiden und alle Abmachungen 
zu vermeiden, die über kurz oder lang als Behin- 
derung der von beiden Teilen absolut zu fordern- 
den Lebensfreiheit aufgefaßt oder als im geschickten 
Zeitpunkt erzwungene Zugeständnisse empfunden 
werden müßten. Leichter wird sich das erreichen 
lassen bei Konkordaten, die am Schluß eines 
langen kirchenpolitischen Kampfes den beiderseits 
ersehnten Frieden schaffen; zahlreicher sind die 
Klippen für beide Teile, wenn zu Zeiten der ge- 
sellschaftspolitischen Schwäche des einen Teils ein 
kirchenpolitisches System konkordatsmäßig festge- 
legt werden soll. 
Wird diese Vorsicht und Zurückhaltung beim 
Abschluß von Konkordaten beachtet, dann sind sie 
wohl geeignet, als sachliche Grundlage eines fried- 
lichen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche zu 
dienen und Willkür der Menschen in Staat und 
Kirche hintanzuhalten. Je mehr im Volke die 
Erkenntnis vorhanden ist, daß die Kirche nicht zu 
viel verlangt hat und daß der Staat grundsätzlich 
wenigstens nicht einfach abzulehnende Interessen 
im Vertrag mit der Kirche sich sichern wollte, um so 
größere Dauerhaftigkeit wird ein Konkordat haben. 
Auch ein solches Konkordat entbehrt zwar der 
eigentlich rechtlichen Zwangsgarantien seines Be- 
standes, aber es hat als Stütze zur Seite das, was 
man als soziale Garantien des öffentlichen Rechts 
bezeichnet hat; diese aber bilden den wichtigsten 
tatsächlichen Schutz alles öffentlichen Rechts, auch 
auf dem Gebiete des Verhältnisses von Staat und 
Kirche (vgl. Jellinek a. a. O. 1 769). Leicht ist die 
Aufgabe, ein Konkordat abzuschließen, gerade nicht; 
aber sie läßt sich erfüllen. Was unter allen Um- 
ständen Voraussetzung eines jeden friedlichen Ver- 
hältnisses zwischen Kirche und Staat ist, das muß 
eben auch verlangt werden beim Abschluß von Kon- 
kordaten: „beiderseitiger guter Wille, gepaart mit 
Verständnis für die Interessen und Ansprüche des 
andern Teiles“ (Scherer a. a. O. 1 1, 58). „Die 
gegebenen historischen Verhältnisse, der Geist der
	        
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