Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Illusionen seiner Schule in unübertroffener Fein- 
heit und durchdringender Autorität seine An- 
schauungen über die Revolution, insbesondere die 
französische, als einen verbrecherischen und unnützen 
Wahn fest, brandmarkte ihren anarchischen Stolz, 
ihre narrenhafte Heuchelei und schmachvolle Lan- 
desverwüstung. Wie Montalembert aber hier weder 
der Zeit noch dem Ort noch den historischen Um- 
ständen genug Rechnung trägt, so noch weniger 
bei der Entwicklung seiner Freiheitsidee. Zu 
abstrakt, christliche und liberale Auffassung nicht 
scharf und klar trennend, suchte er einen Ausweg, 
den er nicht fand. „Die Freiheit — ich sage es 
ohne Phrase — ist das Idol meiner Seele ge- 
wesen; wenn ich mir einen Vorwurf zu machen 
habe, so ist es der, sie zu sehr geliebt zu haben, 
geliebt, wie man liebt in der Jugend, d. i. ohne 
Maß und ohne Zügel.“ Wenn dieses Wort vom 
Spätabende seines Lebens uns die Illusionen, die 
Verirrungen, den unverwüstlichen Glauben an den 
Sieg der Freiheit inmitten der schreiendsten Atten- 
tate auf sie erklärt, dann muß gegenüber dem Vor- 
wurfe der Ideologie doch daran erinnert werden, 
daß die Freiheit bei ihm keine bloße Abstraktion 
war. Für ihn war sie der Inbegriff aller persön- 
lichen und korporativen Garantien, welche der 
Staatsomnipotenz Schranken entgegenstellten. 
Daß Montalembert den Ausgleich seiner poli- 
tischen Antithese nicht gefunden, darf ihm nicht 
ganz zum Vorwurf gereichen; er war zu abhängig 
von den gegensätzlichen Strömungen seiner Zeit 
und seiner Umgebung; daß er kühn, mit unver- 
gleichlichem Mute und dem Opfer seiner Person 
und seiner hohen Begabung ihn redlich und un- 
verwandt gesucht auf dem Boden katholischer Über- 
zeugung, bleibt sein Ruhm; daß er dabei in der 
steten Rückkehr zu dem Glauben an die sieghafte 
Kraft seiner Freiheitsidee sich verirrte, ist er- 
klärlich und bleibt beklagenswert. 
Am 20./21. Aug. 1863 las er auf dem Katho- 
likentage zu Mecheln, schon tiefgebeugt durch 
ein schmerzvolles, unheilbares Leiden, sitzend seinen 
Abschiedsgruß an die große Idee seines Lebens. 
Mit begeistertem Lobpreise der belgischen Verfas- 
sung wies er auf die Grundfreiheiten des Unter- 
richts, der Assoziation, der Presse, der Kulte als 
das Idealprinzip der christlichen Politik und die 
Grundlage aller weiteren politischen Entwicklung 
hin und verkündete das Programm von „der freien 
Kirche im freien Staate“. Er übersah den dogma- 
tischen Irrtum in der schlechthinigen Gleichstellung 
der natürlichen Gesellschaftsordnung mit der über- 
natürlichen; er vergaß den jähen Sturz seines 
Lammennaisschen Idealismus, seine herbsten Le- 
benserfahrungen, die Entscheidungen und Mah- 
nungen Roms von 1830 (Mirari vos), bie Lehre, 
daß es keiner bloß irdischen, auch nicht der höchsten, 
der freiheitlichen Selbstbestimmung ohne die über- 
natürliche Hand der Gnade verliehen ist, den 
Menschen seinen letzten und höchsten Zielen auch 
in den irdischen Institutionen zuzuführen. 
Montalembert. 
  
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In den Illusionen des Mechelner Programms 
fanden ihn die letzten Lebensjahrez; erstere 
erklären jenen Protest gegen den Syllabus, den 
der belgische Staatsminister A. Dechamps im 
Sinne und mit dem Einverständnis Montalem- 
berts und seiner Freunde bei Pius IX. einreichte; 
sie erklären seine Stellungnahme auf seiten der 
Gegner des herannahenden Vatikanischen Konzils 
und der Definition der Infallibilität des Papstes. 
Bis hart an die Schwelle des Todes lebten in ihm 
die Grundrichtungen seines Charakters, tieffromme, 
rührende Hingabe an die Kirche und die be- 
zaubernde Macht seiner Freiheitsidee, die er be- 
droht glaubte von dem „Idole des Vatikans“ — 
das Wort war nicht von ihm, sondern vom Erz- 
bischof Sibour von Paris. Über beides liegen voll- 
wichtige Dokumente vor in dem Briefe an den un- 
glücklichen Apostaten Hyacinth Loyson (28. Sept. 
1869) und dem offenen Briefe (28. Febr. 1870) 
mit den heftigen Angriffen auf Papst, Konzil und 
Infallibilitätslehre. Nur tiefgreifende Unkenntnis 
der religiösen und politischen Ideen Montalem- 
berts, seiner großen kirchlichen Vergangenheit, 
seines reinen, makellosen, tief frommen Lebens er- 
klären den unbesonnenen, beschämenden Jubel über 
diesen Brief auf seiten theologisch gebildeter 
Männer. Von seinem Lieblingsaufenthalte, dem 
romantischen Schloß La Roche--en-Brenil, nach 
Paris zurückgekehrt, starb er unerwartet schnell am 
13. März 1870 im Frieden mit Gott, mit der 
Kirche und in ausdrücklicher, wie er auf seinem 
Schlosse Msgr Besson erklärte und der Gräfin 
Merode wiederholte, für ihn selbstverständlicher 
Unterwürfigkeit unter die Beschlüsse des Vatikani- 
schen Konzils. Pius IX. ließ in S. Maria del 
Traspontina dem Patrizier der heiligen römischen 
Kirche und dem römischen Bürger einen feierlichen 
Trauergottesdienst halten, dem er selbst beiwohnte. 
Das Wort: „Ich habe die Freiheit mehr als alles 
auf dieser Welt geliebt, und die katholische Re- 
ligion mehr als die Freiheit selbst“, war, wie in 
seinem gläubigen kirchlichen Leben, so jetzt im 
christlich-frommen Tode besiegelt. Daran ist heute 
kein Zweifel mehr, daß sein größter Gegner L. 
Veuillot recht hatte, als er am offenen Sarge ihm 
das Zeugnis ausstellte: „Unter allen Laien unserer 
Zeit hat Herr v. Montalembert der Kirche die 
größten und hingebendsten Dienste geleistet." 
Das Herrlichste, was von Montalembert bleibt, 
sind die Denkmäler seiner politischen Rede- 
kunst, die ihm unter den Männern der öffent- 
lichen Rede eine der höchsten Stelle stets sichern 
werden. Die politische Rede, ihrer Natur nach spon- 
tan, improvisatorisch, auf den Augenblickserfolg be- 
rechnet, wie oft geht sie auch in ihren glänzendsten 
Erscheinungen spurlos vorüber! Beim Studium 
der großen Montalembertschen Reden, die nun 
schon über ein halbes Jahrhundert alt sind, fällt 
ihr Unterschied von den zeitgenössischen Reden, die 
mit ihm in Parallele treten können, scharf auf. 
Nichts erscheint veraltet, es ist, als höre man noch
	        
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