Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Fürsten im Unterschied von dem des staatlichen 
Gemeinwesens oder gar im Gegensatz dazu ver- 
folgte, so ziemlich überall und jedenfalls in allen 
zivilisierten Ländern der Boden entzogen. Ganz 
allgemein aber gilt hier das früher Gesagte: 
Macht und Machtstellung als solche bilden in 
Wahrheit keinen staatlichen Zweck, sondern nur 
die Voraussetzung für die Verwirklichung dieser 
Zwecke. Sie zu erhalten ist daher Pflicht, soweit 
das letztere davon abhängt; ihre Erweiterung nur 
dann zulässig, wenn sie ohne Beschädigung der 
berechtigten Interessen Dritter geschieht. 
Nicht zu den Zwecken, wohl aber gleichfalls zu 
den Bedingungen des staatlichen Lebens gehört 
sodann nach dem früher Gesagten die rechtliche 
Ordnung des Gemeinlebens, seine Organisation 
oder Verfassung. Maßgebend für dieselbe ist 
hinwiederum die Aufgabe des Staats, und so 
erhellt von vornherein, daß jede Einrichtung ver- 
werflich ist, welche Erfolg und Gewinn des staat- 
lichen Lebens ausschließlich einzelnen Personen 
oder Klassen zugut kommen läßt. Aristoteles teilt 
die Verfassungen ausdrücklich ein in gute und 
schlechte, je nachdem in ihnen der Nutzen der 
Regierten oder der der Regierenden das Ent- 
scheidende ist. Es erhellt weiter, daß das Be- 
streben, eine solche schlechte Verfassung aufrecht zu 
erhalten, unsittlich ist, und zwar nicht in dem 
Sinn, daß die Moral wie eine fremde Macht die 
Politik durchkreuzte, sondern weil eine solche Politik 
dem in der sittlichen Ordnung begründeten Zweck 
des Staats widerstreitet. Viel häufiger freilich 
als die Fälle, in denen sich auf eine Verfassung 
die einfachen Kategorien von gut und böse an- 
wenden lassen, sind die andern, in denen die Be- 
urteilung der bestehenden Verhältnisse wegen der 
verschiedenartigen Interessen, Gewohnheiten und 
Anschauungen der verschiedenen Klassen und 
Gruppen auseinandergeht und infolge davon poli- 
tische Parteien sich bilden, welche Erhaltung oder 
Neugestaltung, Korrektur oder radikale Beseitigung 
jener Verhältnisse anstreben. Die Bemühungen 
dieser Parteien, zu entscheidendem Einfluß in 
Gesetzgebung und Staatsverwaltung zu gelangen, 
sind — abgesehen von der Wahl der Mittel — 
so lange sittlich zulässig, als nicht das einseitige 
Parteiinteresse in offenkundigen Gegensatz gegen 
das der großen Mehrheit der Bevölkerung tritt. 
Hiernach bleibt es dabei, daß es staatliche 
Zwecke, welche in sich, d. h. auf dem Standpunkt 
des staatlichen Lebens, berechtigt, auf dem der 
Moral dagegen verwerflich wären, nicht gibt und 
nicht geben kann; die Frage ist dagegen noch, ob 
ein Unterschied der Staatsmoral und der Privat- 
moral vielleicht in der Art bestehe, daß staatliche 
Zwecke mit Mitteln angestrebt werden können, 
deren Anwendung im Privatleben als unsittlich 
gebrandmarkt würde. Hierbei ist zuerst daran zu 
erinnern, daß ein derartiger Konflikt selbstver- 
ständlich niemals das unpersönliche Staatsganze, 
sondern immer nur die mit den Staatsgeschäften 
Politik. 
  
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betrauten Personen treffen kann. Es ist ferner zu 
erinnern, daß für den, der im Namen und In- 
teresse einer Gemeinschaft handelt, andere Ge- 
sichtspunkte in Betracht kommen als für den, der 
nur für sich und im eignen Namen tätig ist. Der 
Privatmann kann aus höheren Rücksichten auf die 
Erstreitung eines Rechts verzichten, während für 
einen Staatsmann, und in Fällen, in denen es 
sich um Rechte des Staats handelt, ein solcher 
Verzicht unverzeihliche Schwäche wäre, ohne daß 
darum von einer zweifachen Moral gesprochen 
werden könnte. Ahnlich ist zu beurteilen, was 
Bluntschli anführt, „daß es für den Staat besser 
ist, wenn er durch einen energischen, aber herrsch- 
süchtigen Mann aus großer Gefahr gerettet, als 
durch einen ängstlichen, persönlich tugendhaften 
Regenten geschwächt wird, und für die Volks- 
wohlfahrt zuträglicher, wenn die angeregte Eitel- 
keit gemeinnützige Werke schaffen hilft, als wenn 
die fromme Demut nichts tut“. Tatlosigkeit und 
Unentschiedenheit begründen auch im Privatleben 
keinen sittlichen Vorzug, der Ehrgeiz aber hört 
au, tadelnswert zu sein, wo er sich in den Dienst 
einer großen Sache stellt. Er vermindert vielleicht 
das eigne Verdienst des Handelnden, aber nur ein 
unvernünftiger Rigorismus könnte im Namen der 
Sittlichkeit von einem Staatsmann verlangen, 
daß er eine für das Gemeinwohl in hohem Grad 
förderliche Handlung darum unterlassen solle, weil 
auch sein Ehrgeiz in derselben Befriedigung findet. 
Mit aller Schärfe muß dagegen festgehalten wer- 
den, daß Handlungen, welche das Sittengesetz 
verbietet, auch für den Staatsmann unerlaubt 
sind, und daß die Durchführung sittlich zulässiger 
oder selbst gebotener Staatszwecke niemals die 
Wahl unsittlicher Mittel gestattet. 
Dies gilt sogleich in Bezug auf die Erhaltung 
der Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Staats- 
wesens, ja hier trifft vollkommen dasjenige zu, was 
für den einzelnen in Bezug auf die Erhaltung 
seines Lebens Geltung hat. Notwehr ist sittlich 
und rechtlich zulässig. Wo dem einzelnen der 
Schutz des Staats nicht zu Gebot steht, ist er 
befugt, einen Angriff gegen sein und der Seinigen 
Leben unter Anwendung von Gewaltmitteln ab- 
zuwehren. Solang es an einer Institution fehlt, 
welche den Verkehr der Staaten untereinander 
regelt und in wirksamer Weise für den Schutz des 
internationalen Rechts eintritt, gibt es ein Recht 
der Notwehr auch für die Staaten. Die sittliche 
Zulässigkeit des Verteidigungskriegs pflegt in der 
Tat von niemand bestritten zu werden. Die Ver- 
teidigung der eignen Existenz ist indessen nicht 
einmal die einzige gerechte Ursache für einen 
Krieg. Gerade weil und solang eine derartige 
Institution fehlt, kann es auch andere Fälle geben, 
wo den Staat kein Vorwurf trifft, wenn er ein 
unzweifelhaftes und für die Entfaltung seines 
vollen Lebens unentbehrliches Recht mit Gewalt 
durchzusetzen bemüht ist. Aber der Krieg ist ein 
so entsetzliches Ubel, daß man zu ihm immer nur
	        
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