Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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als zu dem letzten Mittel greifen darf, nachdem 
alle Versuche eines friedlichen Austrags gescheitert 
sind. Zum zweiten fordert das Sittengesetz, dieses 
Ubel nach Tunlichkeit einzuschränken. Wie die 
Selbstverteidigung des einzelnen nicht über das 
zur wirksamen Abwehr des Angriffs Erforderliche 
hinausgehen darf, so sind auch im Krieg alle 
Maßnahmen unerlaubt, welche nicht durch den 
Zweck des Kriegs notwendig gefordert sind. Daß 
entgegen der Roheit und Barbarei früherer Jahr- 
hunderte diese Uberzeugung in der Gegenwart 
mehr und mehr zum Durchbruch gekommen ist und 
daß sich aus den ersten, der ritterlichen Ehre und 
Sitte entstammten Anfängen ein internationales 
Kriegsrecht auszubilden begonnen hat, darf mit 
Befriedigung konstatiert werden. Die Behand- 
lung von Verwundeten und Gefangenen, die 
Neutralität der Verbandplätze und Kriegslazarette, 
die Abschaffung der Kaperei sind hierher zu zählen, 
und wenn leider Plünderung und Mißhandlung 
auch aus den modernen Kriegen nicht ganz ver- 
schwunden sind, so wagt doch niemand, sie als 
unentbehrliche Mittel der Kriegführung zu ver- 
teidigen. 
Wenn der Krieg nur um einer gerechten Ursache 
willen erlaubt ist, also namentlich als Vertei- 
digungkrieg, so sind hiervon selbstverständlich die 
Fälle auszunehmen, wo es einer gewissenlosen 
Diplomatie gelingt, den Feind ins Unrecht zu 
setzen und zu einer Kriegserklärung zu provozieren, 
um so den Schein berechtigter Abwehr zu ge- 
winnen. Schwieriger ist die Entscheidung einer 
andern Frage. Es ist der Fall denkbar, und die 
Gegenwart läßt es nicht an tatsächlichen Anhalts- 
punkten für eine solche Erörterung fehlen, daß nach 
menschlichem Ermessen der Krieg zwischen zwei 
Staaten auf die Länge unvermeidlich und sein 
wirkliches Ausbrechen nur eine Frage der Zeit ist. 
Darf nun ein Staatsmann diesen Krieg, der doch 
einmal kommt, zu einer bestimmten Zeit absichtlich 
herbeiführen, weil dieser Zeitpunkt für den eignen 
Staat die besseren Chancen bietet, sei es wegen 
des Stands der beiderseitigen Rüstungen oder 
wegen gewisser Schwierigkeiten, in denen sich 
augenblicklich der andere Staat befindet? Ist es 
nicht vielleicht sogar patriotische Pflicht, den Mo- 
ment zu ergreifen und nicht zu warten, bis sich 
die Chancen zugunsten des Feinds verschoben 
haben? Der Gedanke hat etwas Bestechendes, und 
dennoch ist die Frage zu verneinen. Solang der 
Krieg nicht wirklich ausgebrochen ist, besteht die 
Möglichkeit, daß er, wenn auch im Widerspruch 
mit allen Erwartungen, vermieden bleiben werde. 
Auf diese Möglichkeit Verzicht zu leisten und den 
Krieg absichtlich herbeizuführen, muß daher als 
sittlich unzulässig bezeichnet werden. 
An zwei Punkten pflegt auch noch in der Gegen- 
wart Ubung und Beurteilungsweise hinter den 
Forderungen des Sittengesetzes zurückzubleiben: 
es ist dies das Verhalten der zivilisierten Völker 
gegenüber tiefer stehenden und sodann das Kund- 
Politik. 
  
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schafterwesen. Das Bestreben, durch den Erwerb 
von Kolonien der einheimischen Industrie neue 
Absatzgebiete zu eröffnen, ist an sich zweifellos be- 
rechtigt; im höchsten Grad verwerflich aber ist es, 
wenn dabei die ursprünglichen Bewohner jener 
Länder wie eine rechtlose Herde angesehen werden, 
die man ohne Skrupel mihachten, ausbeuten, 
mißhandeln könne. Derselbe Umfang natürlicher 
Rechte, dessen wir uns rühmen, steht auch dem 
sog. Wilden zur Seite, er hat den gleichen An- 
spruch auf die Achtung derselben. Auch sollten sich 
die Leiter der Kolonialpolitik von Anfang an der 
Pflicht bewußt sein, eine tiefer stehende Bevölke- 
rung zur Zivilisation zu erziehen, wozu sich dann 
freilich die Verbreitung der christlichen Lehre als 
unentbehrliche Grundlage und einzig wirksames 
Mittel erweisen wird. — Was das andere betrifft, 
so ist ja die Kenntnis der Stellung und Stärke 
des Feinds, seiner Absichten und Maßnahmen 
eines der wichtigsten Mittel erfolgreicher Krieg- 
führung. Aber ein gesunder Zustand ist es sicher- 
lich nicht, wenn Staaten mitten im Frieden ein- 
ander gegenseitig mit einem Netz von Kundschaftern 
überziehen, zugleich aber Gesetze gegen Spionage 
machen und die derselben Überführten im Namen 
des Rechts verurteilen. Dazu kommt, daß mit der 
Auskundschaftung in Krieg und Frieden nur zu 
oft die Aufforderung zu Treubruch und Verrat 
verbunden zu sein pflegt, welche unter allen Um- 
ständen als unsittlich zu verwerfen ist. 
Es liegt in der Natur der Sache, daß die Frage 
nach der Zulässigkeit der Mittel am häufigsten in 
Bezug auf den Verkehr der Staaten untereinander 
aufgeworfen wird. Auch in der innern Politik 
aber fehlt es keineswegs an Anlässen, sie zu er- 
örtern und mit aller Schärfe auszusprechen, daß 
die Wahl unsittlicher Mittel niemals, auch für 
den genialsten Staatsmann nicht, gestattet ist. 
Ich denke hier namentlich an die systematische 
Fälschung der öffentlichen Meinung mit Hilfe 
einer erkauften Presse. Nicht minder aber ist es 
der Kampf der politischen Parteien, welcher allzu- 
oft die Berücksichtigung jenes Grundsatzes ver- 
missen läßt. Man bedenke nur, welches Maß von 
Verhetzung, von persönlichen Verdächtigungen, 
von Verdrehung und Entstellung entgegenstehender 
Ansichten die Wahlen zu den verschiedenen parla- 
mentarischen Körperschaften regelmäßig zu Tage 
fördern, — um von den weit drastischeren Mitteln 
zu schweigen, durch welche beispielsweise in den 
Vereinigten Staaten von Amerika die Parteien 
einander den Sieg bei der Präsidentenwahl streitig 
zu machen bemüht sind. 
So ist also nicht die Politik als souverän der 
Moral gegenüber zu bezeichnen, sondern gerade 
umgekehrt die volle Herrschaft der Moralgesetze 
auf dem politischen Gebiet zu proklamieren, in- 
sofern keine Handlung, welche moralisch verwerflich 
ist, als politisch zulässig gelten darf. Die Beant- 
wortung der weiteren Fragen, ob es nun auch 
Aufgabe des Staats sei, jede Übertretung des
	        
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