Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Hoheit. Der Thronerbe leistet vor der Prokla- 
mation zum König in die Hand des Präsidenten 
der Pairskammer in Gegenwart beider Kammern 
den Eid, die römisch-katholische Religion aufrecht 
zu erhalten und die Verfassung zu beobachten. 
Der König darf ohne Zustimmung der Cortes 
nicht länger als 3 Monate aus dem Land ab- 
wesend sein. Für den Fall einer notwendig wer- 
denden Regentschaft sind in der Verfassungs- 
urkunde genaue Vorschriften gegeben (Art. 91 bis 
100); in erster Linie gebührt die Regentschaft dem 
nächsten, über 25 Jahre alten Verwandten des 
Königs; ist kein solcher vorhanden, so ist eine 
dreigliedrige Regentschaft von den Cortes zu er- 
nennen. 
Parlament. Das Gesetzgebungsrecht übt 
der König in Verbindung mit der repräsentativen 
Versammlung, den Cortes, aus, die aus der 
Pairskammer (camara dos pares, auch camara 
alta) und der Abgeordnetenkammer (camara dos 
deputatos) besteht. Die Cortes müssen alljährlich 
verfassungsmäßig einberufen und am 2. Jan. vom 
König persönlich eröffnet werden. Die Pairs- 
kammer setzt sich (Gesetz vom 3. April 1896) 
zusammen aus Mitgliedern auf Lebenszeit, die 
vom König ernannt werden (Höchstzahl 90) und 
mindestens 40 Jahre alt und zu Deputierten 
wählbar sein müssen (jedoch auch die Chefs diplo- 
matischer Missionen, die königl. Kommissäre und 
Gouverneure in den überseeischen Provinzen und 
die höheren Beamten des Hofes), ferner aus Mit- 
gliedern durch eignes Anrecht (der Kronprinz, 
die 25 Jahre alten Infanten, der Patriarch von 
Lissabon, die Erzbischöfe und Bischöfe des fest- 
ländischen Teils des Reichs) und aus Mitgliedern 
durch erbliches Recht (die unmittelbaren Nach- 
folger der verstorbenen Pairs und derjenigen 
Pairs, die zur Zeit des Erlasses der zweiten Zu- 
satzakte 1885 lebten, wenn sie bestimmte Be- 
dingungen erfüllen). Die Ernennung eines Pairs 
ist der Pairskammer offiziell anzuzeigen und kann 
von dieser, falls die gegebenen Bedingungen nicht 
erfüllt waren, innerhalb 5 Tagen beanstandet 
werden. — Die Abgeordnetenkammer be- 
steht nach dem Wahldekret vom 8. Aug. 1901 aus 
155 direkt gewählten Abgeordneten: in den 
26 Wahlkreisen des kontinentalen Portugals ein- 
schließlich Azoren und Madeira werden 113 Ab- 
geordnete und 35 Vertreter der Minderheiten, in 
den Kolonien 7 Abgeordnete gewählt. Wahl- 
berechtigt sind alle 21 Jahre alten portugiesischen 
Bürger, die im Königreich Wohnsitz haben, jähr- 
lich mindestens 500 Reis direkte Steuern bezahlen 
oder lesen und schreiben können; ausgeschlossen 
sind Bankrotteure, Bettler, Sträflinge, häusliche 
Dienstboten, in Regierungsdiensten stehende Ar- 
beiter und gewöhnliche Soldaten. Wählbar sind 
alle portugiesischen Bürger, die das aktive Wahl- 
recht besitzen und ein jährliches Einkommen von 
400 Milreis aufweisen; Offiziere und Gelehrte 
sind keinem Zensus unterworfen. Als unverein- 
  
Portugal. 
  
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bar mit der Stellung eines Abgeordneten gelten 
alle Amter des königlichen Hofes, die Stelle eines 
Pächters, Direktors und obersten Leiters gepach- 
teter Staatseinkünfte, die höheren Verwaltungs- 
und Finanzämter in den betreffenden Amtsbezirken, 
die höheren staatsanwaltlichen Funktionen und 
andere. Ein neues Wahlgesetz, das eine andere 
Wahlkreiseinteilung und obligatorische Stimmen- 
abgabe vorsieht, ist Anfang April 1910 der 
Kammer vorgelegt worden. 
Die gemeinsamen Befugnisse beider Kammern 
sind: den Eid des Königs, Kronprinzen, Regenten 
oder der Regentschaft entgegenzunehmen, den Re- 
genten oder Regentschaftsrat zu wählen und deren 
Befugnisse festzusetzen, den Kronprinzen als Thron- 
folger in der ersten Sitzung nach dessen Geburt 
anzuerkennen, für den minderjährigen König einen 
Vormund zu ernennen, falls durch das Testament 
des Vaters keiner bestimmt ist, nach Erledigung 
des Throns die Verwaltung zu prüfen, Gesetze 
zu geben, authentisch zu interpretieren, zu fsuspen- 
dieren und abzuschaffen, über die Aufrechterhaltung 
der Verfassung zu wachen, jedes Jahr die Staats- 
ausgaben festzustellen und die direkten Steuern zu 
verteilen, auf Vorschlag der Regierung die Stärke 
der Land= und Seestreitkräfte festzusetzen, den 
Eintritt fremder Truppen zu gestatten oder zu 
versagen, die Regierung zur Aufnahme von An- 
leihen zu ermächtigen und zur Tilgung der Staats- 
schuld geeignete Maßregeln zu treffen, die Ver- 
waltung der Staatsgüter und ihre Veräußerung 
zu regeln, Staatsämter zu schaffen und aufzuheben, 
über Münzen, Maße und Gewichte zu entscheiden. 
Ausschließliche Befugnisse der Pairskammer sind 
über Vergehen, die von Mitgliedern der königl. 
Familie, von Staatsministern, Staatsräten und 
Pairs sowie von Abgeordneten während der Le- 
gislaturperiode begangen werden, zu befinden, 
über die Verantwortlichkeit der Minister und 
Staatsräte zu erkennen und beim Tod des Königs 
die Cortes zur Wahl der Regentschaft einzuberufen, 
falls die provisorische Regentschaft dies unterläßt. 
Der Abgeordnetenkammer allein steht zu die Ini- 
tiative in Steuerangelegenheiten und hinsichtlich 
der militärischen Aushebung, ferner darüber, ob 
die Minister und Staatsräte in Anklagezustand 
zu versetzen sind oder nicht; die von der Regierung 
gestellten Anträge müssen in ihr zuerst beraten 
werden. Die Sitzungen beider Kammern sind in 
der Regel öffentlich. Kein Mitglied der Cortes 
darf während der Dauer seines Mandats ver- 
haftet werden, es sei denn auf Beschluß seiner 
Kammer oder bei einem Kapitalverbrechen, wenn 
er auf frischer Tat ergriffen wird. Seit 1892 
erhalten die Abgeordneten mit Ausnahme der für 
die Kolonien, deren Wohnsitz in den Kolonien 
selbst ist, keine Diäten; sie genießen jedoch freie 
Fahrt auf den staatlichen Eisenbahnen und Dampf- 
schiffen. Der Präsident und Vizepräsident der 
Pairskammer werden vom König ernannt, die 
der Abgeordnetenkammer aus einer von dieser 
 
	        
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