Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

255 
Privatbriefbeförderungsanstalten ins Leben, im 
ganzen 84. Im allgemeinen Verkehrsinteresse war 
es geboten, diesen Zustand zu beseitigen. Durch 
das vorerwähnte Gesetz ist der Postzwang auch 
auf Ortsbriefe ausgedehnt und der organisierte 
gewerbsmäßige Privatpostbetrieb auch im Ort 
selbst verboten. Unter dieses Verbot fällt auch der 
Betrieb von Anstalten zur gewerbsmäßigen 
Einsammlung, Beförderung oder Verteilung von 
unverschlossenen, mit der Aufschrift bestimmter 
Empfänger versehenen Briefpostgegenstände. 
Nach Art. 48 der Reichsverfassung soll sich die 
Gesetzgebung des Reichs nicht auf die Gegenstände 
erstrecken, „deren Reglung nach den in der nord- 
deutschen Postverwaltung maßgebend gewesenen 
Grundsätzen der reglementarischen Festsetzung 
oder administrativen Anordnung überlassen ist“. 
Der 8§ 50 des Postgesetzes bestimmt im Anschluß 
hieran, daß durch ein vom Reichskanzler zu er- 
lassendes Reglement (Postordnung) die weiteren 
bei Benutzung der Postanstalt zu beobachtenden 
Vorschriften getroffen werden sollen. Das ist zu- 
letzt durch die Postordnung vom 20. März 1900 
geschehen. Sie zerfällt in zwei Bestandteile, näm- 
lich 1) Vorschriften über das Rechtsverhältnis 
zwischen der Post und dem Absender oder dem 
Reisenden bei Benutzung der Posten und 2) An- 
ordnungen über Aufrechterhaltung der Ordnung, 
der Sicherheit und des Anstands auf den Posten. 
Die Vorschriften unter 1 sind als Vertrags- 
bestimmungen aufzufassen, die Vorschriften zu 2 
sind dagegen wirkliche Rechtsnormen. 
Auf dem Gebiet des Tarifwesens hat die 
Neuzeit eine vollständige Umwälzung gebracht. 
In früheren Zeiten fehlte dem Tarifwesen jedes 
seste System, der innere Zusammenhang. Wie 
das Postwesen zersplittert war, so herrschte auch 
größte Vielseitigkeit der Taxen im innern Verkehr 
der Staaten und erst recht im internationalen 
Verkehr. In der Regel kamen so viele Portosätze 
zur Erhebung, als Postgebiete berührt wurden, 
wobei für die zwischen den Grenzpostanstalten 
liegenden Strecken meistens noch ein Porto- 
zuschlag erhoben wurde. Die Taxen waren nach 
den verschiedensten Gesichtspunkten, nach Entfer- 
nungs= und Gewichtsstufen zu berechnen. Hierzu. 
kamen die Verschiedenheiten der Entfernungsein- 
heiten, der Meilenmaße, der Münzen und Ge- 
wichte. Die Zahl der früheren Brieftaxen für den 
innern deutschen Verkehr wird auf 2000 geschätzt. 
Nur nach und nach traten verbessernde Anderungen 
ein. Man fing an, das Porto nach Entfernungen, 
nach der Beförderungsstrecke zu berechnen; es 
wurde das Gewicht zugrunde gelegt, in manchen 
Staaten war auch der Inhalt mitbestimmend. 
Einen wesentlichen Einfluß auf die Höhe der 
Taxen übten die Zeitverhältnisse an und für sich 
aus. Eine radikale Anderung brachte 1837 eine 
Schrift des Engländers Rowland Hill, betitelt 
Post Office Reform, its importance and 
practicability. Er schlug für England eine Ein- 
Post usw. 
  
256 
heitstaxe von 1 Penny für Briefe im Gewicht bis 
½ Unze ohne Unterschied der Entfernung vor. 
Es sollte vorausbezahlt und durch Stempelmarke 
verrechnet werden. Das Einheitsporto trat tat- 
sächlich 1840 in Kraft. Diesem Vorschlag lag 
der richtige Gedanke zugrunde, daß für den 
Briefverkehr viel weniger die Entfernung in Be- 
tracht kommt als vielmehr die Arbeiten, welche 
durch die Annahme und die Bestellung herbei- 
geführt werden. Die Vorausbezahlung und Ver- 
rechnung des Portos mußte eine wesentliche Er- 
leichterung des Betriebs zur Folge haben. Row- 
land Hill glaubte, daß der Einnahmeausfall durch 
die zu erwartende Steigerung des Briefverkehrs 
gedeckt werde, daß er aber gewiß durch erhöhte 
Einnahmen aus andern Verwaltungszweigen in- 
folge Anspornung der Produktivkraft des Landes 
ausgeglichen werde. Drei Jahrzehnte blieb die 
Einnahme gegen frühere Erträgnisse zurück. Aber 
das Einheitssystem wurde beibehalten, und auch 
die übrigen Kulturstaaten führten es nach und 
nach ein. Die als Mittel zur Verrechnung vor- 
geschlagene Freimarke hat inzwischen die ganze 
Erde erobert. Im internationalen Verkehr machte 
der Umstand Schwierigkeiten, daß jeder an der 
Beförderung beteiligte Staat auch seinen Anteil 
am Porto beanspruchte. Dies wird noch weiter 
unten (Weltpost) erörtert. Die Annahme der 
Hillschen Portoreform bedeutete nichts anderes 
als ein Aufgeben des früheren allgemein geltenden 
Grundsatzes, daß die Post nichts anderes sei als 
ein auf möglichst hohe Reinerträge gerichteter und 
zu diesem Zweck monopolisierter gewerblicher 
Großbetrieb des Staats; die Post hatte den rein 
fiskalischen Charakter abgelegt. Anderseits machte 
sich die Ansicht geltend, daß die Post als hervor- 
ragendes Verkehrsinstitut überhaupt keine Über- 
schüsse abwerfen dürfe. Beide Ansichten, man 
kann sie wohl kurz als „Gebührenprinzip“ und 
„gewerbliches Prinzip“ bezeichnen, sind falsch. 
Die richtige Tarifpolitik berücksichtigt beide Seiten. 
Vockebezeichnet in seinen „Grundzügen der Finanz- 
wissenschaft“ als Ziel der Gebührenbemessung, daß 
die Betriebskosten vollständig zu decken sowie das 
angelegte Kapital zu verzinsen und zu amorti- 
sieren seien. Es kann aber nicht verlangt werden, 
daß dieses von vornherein sichergestellt ist. Auch 
wird es nicht zu umgehen sein, daß überall da ein 
Zuschuß zu billigen ist, wo wichtige Kulturauf- 
gaben durchzuführen sind. Dieser Grundsatz ist 
von der deutschen Post= und Telegraphenverwal- 
tung namentlich bei Anlagen neuer Postanstalten, 
bei Verbesserung der Landposteinrichtungen beachtet 
worden. Eine richtige Tarifpolitik wird ferner 
nicht verlangen, daß jeder Dienstzweig rentabel sei, 
sondern daß bei den Tarifbestimmungen der Ge- 
samtorganismus in Betracht kommt. In Deutsch- 
land ist die Briefpost zweifellos der rentabelste 
Teil, der hohe Überschüsse abwirft. Anderseits 
gibt es große Zweige, die Zuschuß fordern. Man 
kann hierhin das Telegraphenwesen rechnen, wo-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.