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müssen. Jede Kammer berät und beschließt für
sich; nur bei Eröffnung und Schluß der Session
sowie bei der Wahl eines Regenten vereinigen sich
beide Häuser zu gemeinsamer Sitzung. Niemand
kann Mitglied beider Häuser sein. Die Mit-
glieder beider Kammern schwören Treue und Ge-
horsam gegen den König und gewissenhafte Be-
obachtung der Verfassung; sie sind Vertreter des
ganzen Volks und staatsrechtlich an Aufträge ührer
Wähler nicht gebunden. Sie können für ihre in
den Kammern ausgesprochenen Meinungen nur
innerhalb derselben (Ordnungsruf, Entziehung des
Worts) zur Rechenschaft gezogen werden. Kein
Mitglied einer Kammer kann ohne deren Ge-
nehmigung während der Sitzungsperiode wegen
einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Unter-
suchung gezogen oder verhaftet werden, außer
wenn es bei Ausübung der Tat oder im Lauf des
nächsten Tags ergriffen wird. Jedes Strafver-
fahren gegen ein Mitglied sowie jede Untersuchungs-
oder Zivilhaft wird für die Dauer der Sitzungs-
periode aufgehoben, wenn die Kammer es verlangt.
Beide Häuser haben wie die Krone das Recht der
Initiative, d. h. Gesetze vorzuschlagen. Ohne Zu-
stimmung des Landtags kann kein Gesetz erlassen,
abgeändert, authentisch erläutert oder aufgehoben
werden. Jedoch dürfen nach dem sog. Notstands-
paragraphen, wenn es die Aufrechterhaltung der
öffentlichen Sicherheit oder die Beseitigung eines
ungewöhnlichen Notstands erfordert, auch wenn
die Kammern nicht versammelt sind, Verordnungen
mit Gesetzeskraft erlassen werden; sie müssen jedoch
den Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritt
sofort zur Genehmigung vorgelegt werden. Er-
forderlich ist ferner die Zustimmung des Landtags
für die Aufstellung des jährlichen Staatshaushalts-
etats. Finanzgesetze sind zuerst dem Abgeordneten-
haus vorzulegen. Den Etat kann das Herrenhaus
nicht ändern, sondern nur im ganzen annehmen
oder ablehnen. Zu Etatsüberschreitungen muß die
nachträgliche Genehmigung der Kammern ein-
geholt werden, und die Rechnung über den Staats-
haushalt jedes Jahrs wird den Kammern mit
den Bemerkungen der Oberrechnungskammer zur
Entlastung der Staatsregierung vorgelegt. Ohne
Zustimmung des Landtags dürfen weder neue
Steuern eingeführt noch bestehende erhöht oder
abgeändert werden. Dasselbe gilt von der Auf-
nahme von Staatsschulden und der Übernahme
von Garantien von seiten der Staatskasse. (Vgl.
jedoch, besonders über das Steuerverweigerungs-
recht, Art. Garantien, staatsrechtliche, Bd II,
Sp. 393.) Außerdem steht den Kammern das
allgemeine Recht zu, „die Verfassung und den be-
stehenden Rechtszustand des ganzen Landes sowie
die staatsbürgerlichen Rechte der einzelnen gegen
etwaige Eingriffe der Regierung mit allen gesetz-
lichen Mitteln zu verteidigen“. Sie haben das
Recht, Petitionen entgegenzunehmen, Interpella-
tionen an die Regierung und Adressen (d. h.
schriftliche Ansprachen) an den König zu richten,
Preußen.
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behufs ihrer Information Kommissionen zur Unter-
suchung von Tatsachen zu ernennen, die an sie
gerichteten Schriften an die Minister zu verweisen,
Auskunft über eingehende Beschwerden zu ver-
langen, die Gegenwart der Minister zu fordern
und diese wegen Verfassungsverletzung, Bestechung
und des Verrats anzuklagen. Eine Minister-
anklage ist jedoch solang nicht möglich, als nicht
ein besonderes Gesetz deren Verfahren festsetzt.
Von den 58 Stimmen des Bundesrats fallen
auf Preußen 17, von den 397 Abgeordneten des
Reichstags 235.
An der Spitze der Staatsverwaltung stehen
seit 1808 Fachminister (1910: 9), die vom König
nach eigner freier Entschließung berufen werden
und die Verwaltung selbständig unter unmittel-
barer Verantwortung leiten. Damit unter den
einzelnen Ministern die erforderliche Einheitlich-
keit in der Verwaltung gewährleistet werde, bilden
sie mit dem Ministerpräsidenten das Staats-
ministerium, welches nach kollegialischer Be-
ratung Beschluß zu fassen hat über: a) die Be-
ratung der dem Landtag zu unterbreitenden oder
von diesem vorgeschlagenen Gesetzentwürfe; b) die
Vorschläge wegen Anstellung der Ober= und Re-
gierungspräsidenten und anderer hoher Beamten;
P) die Entscheidung von Meinungsverschieden-
heiten zwischen den Ministern; d) die Einleitung
einer Regentschaft und die Verhängung des Be-
lagerungszustands; e) die endgültige Entscheidung
in Disziplinarsachen; f) die Entscheidung über
Einverleibung von Landgemeinden und Guts-
bezirken und die Beantragung der Auflösung kom-
munaler Vertretungen. Die dem Staatsmini-
sterium direkt unterstellten Behörden sind: a) das
Oberverwaltungsgericht, der oberste Gerichtshof
zur Entscheidung der öffentlich-rechtlichen Streit-
sachen; b) die Prüfungskommission für höhere
Verwaltungsbeamte; c) der Gerichtshof zur Ent-
scheidung der Kompetenzkonflikte; d) der Diszip-
linarhof für nicht richterliche Beamte; e) die An-
siedlungskommission für Westpreußen und Posen;
t) das Zentraldirektorium der Vermessungen im
preußischen Staat, welchem besonders die obere
Leitung der im allgemeinen Staatsinteresse zu be-
treibenden Vermessungen und Kartenarbeiten zu-
steht; 8) der Reichs= und Staatsanzeiger und die
Redaktion der Gesetzsammlung; h) der Ausschuß
zur Untersuchung der Wasserverhältnisse in den der
Überschwemmungsgefahr besonders ausgesetzten
Flußgebieten. Ausschließlich unter der oberen
Leitung und der Disziplinargewalt des Präsi-
denten des Staatsministeriums stehen: a) die
Generalkommission in Angelegenheiten königlicher
Orden; b) die Staatsarchive, die in den Pro-
vinzen außerdem unter die unmittelbare Aufsicht
des Oberpräsidenten gestellt sind. — Das Mini-
sterium der auswärtigen Angelegenheiten (seit
1810) ist seit 1871 verbunden mit dem Auswär-
tigen Amt des Deutschen Reichs (der Reichskanzler
muf zugleich preußischer Minister des Auswärtigen