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Aber auch die Organisation des industriellen
Lebens ist der Ausbildung kommunistischer Ideale
im Proletariat günstig. Die gewaltigen Fabriken
mit ihrer weitgehenden Arbeitsteilung und straffen
Zentralisation sind in mancher Beziehung ein
Miniaturbild der Vergesellschaftung der Produk-
tionsmittel im großen. In den Massenversamm-
lungen und in den großen Vergnügungslokalen
der Großstadt finden sich die einzelnen von Gott
und Weltverlassenen Proletarier mit ihren Leidens-
gefährten zusammen, die gleiche Not und derselbe
Haß gegen die besitzenden Klassen schlingen ein
festes Band um sie; die gleichen Leiden, von denen
sie sich gedrückt fühlen, die gleichen Ideale, von
denen sie ihre Emanzipation erwarten, kurz die
Gleichheit der Interessen schmiedet die Klasse des
Proletariats zu einem festgeschlossenen Ganzen zu-
sammen. Je reizloser das Leben für den einzelnen
verläuft, je weniger Anziehungskraft die Familie
und die öde, kahle Wohnung mehr auszuüben im-
stande ist, desto größere Bedeutung gewinnen die
Sammelpunkte, in denen sich der Vereinsamte
mit seinesgleichen zusammenfindet. „Das Indi-
viduum verschwindet, der Genosse entsteht. Ein-
heitliches Klassenbewußtsein bildet sich aus und
die Gewöhnung an kommunistische Arbeit und
kommunistischen Genuß“" (Sombart).
Man denke sich nun diese Arbeitermassen, die
in der Dumpbheit einer kümmerlichen Existenz
dahinleben, die noch dazu den Einflüssen der
anarchistischen Propaganda und der sozialdemo-
kratischen Agitation preisgegeben sind, und man
wird begreifen, welch eine Gefahr das Proletariat
für den Bestand und das Gedeihen der Gesellschaft
bedeutet. Bei dem unheimlichen Wachstum, mit
dem sich infolge des Zugs vom Land in die Stadt
unsere Großstädte erweitern, hält vielfach die Ent-
wicklung der Seelsorge nicht mehr gleichen Schritt;
die Kirchennot an den Peripherien der Städte ist
ein sprechender Beweis dafür, daß die Seelsorge
Tausende von Menschen, die mit Gott und der
Welt zerfallen sind, nicht mehr zu erreichen ver-
mag. Die sozialistische Aufreizung findet nicht
überall in dem kirchlichen Einfluß ein heilsames
Gegengewicht.
Das Proletariat ist somit der Träger des revo-
lutionären Gedankens und steht insofern in direktem
Gegensatz zum Bauernstand, der als die konser-
vativste Gruppe der Bevölkerung angesehen werden
muß. Man hat schon gesagt, der Bauer sei in der
Regel „viel schlauer und heimtückischer, viel roher
und zugleich viel berechnender, viel nüchterner,
viel kleinlicher als der Proletarier, er hat zumeist
keinen Idealismus, der Drang ins Große, Freie,
Volle, der so häufig sich selbst im entarteten Prole-
tariergehirn zeigt, fehlt hier fast überall“ (Weisen-
grün a. a. O. 452). Mag dem sein wie immer,
wir finden auch beim Proletariat Züge der Ent-
artung. Geschichtlich hat sich der Bauernstand
noch nie als eine soziale Gefahr erwiesen, wohl
aber das unzufriedene Proletariat.
Proletariat.
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2. Ländliches und intellektuelles
Proletariat. Es wäre jedoch ein Irrtum,
anzunehmen, daß nur aus den Arbeitern, die im
Dienst der Industrie stehen, sich die Scharen des
Proletariats rekrutieren. Es gibt auch ein länd-
liches und ein intellektuelles Proletariat. Ersteres
findet sich da, wo der Großgrundbesitz die selb-
ständigen Bauern aufgesogen und zu Lohnarbeitern
degradiert hat. England, Irland, der deutsche
Osten beherbergen ein solches Proletariat. Wie
die industrielle, ist auch die ländliche Arbeiterfrage
durch den Großbetrieb verursacht. Wo selbständige
kleine und mittlere Betriebe in der Mehrzahl sind,
wie im Westen und Süden Deutschlands und in
Frankreich, dort gibt es auch keine zahlreiche länd-
liche Arbeiterklasse. Ja selbst in den Gebieten der
großbäuerlichen Hof= und der mittleren Ritter-
güter ist es zur Ansammlung eines beträchtlichen
Arbeiterproletariats noch nicht gekommen (West-
falen, Hannover). „Die Landarbeiterfrage gewinnt
erst dann eine der gewerblichen Arbeiterfrage ähn-
liche verhängnisvolle Bedeutung, wenn ein besitz-
loses Landproletariat großen Grund= und Lati-
sundienbesitzern gegenübersteht, ohne daß sich ein
breiter bäuerlicher Mittelstand zwischen diese Ex-
treme einschiebt, wenn die Landarbeiter, rechtlich
oder tatsächlich, ein freies Gemeindeleben nicht
genießen. Diese Voraussetzungen treffen im all-
gemeinen in Großbritannien und in den ostelbischen
Gebieten vorherrschenden Großgrundbesitzes mit
selbständigen Gutsbezirken zu“ (Herkner, Die Ar-
beiterfrage). Wie beim industriellen, tritt auch
beim ländlichen Proletariat die Unsicherheit der
Existenz sehr markant hervor. Wie dort in manchen
Arbeitszweigen, besonders im Konfektionswesen
nur während der Saison genügende Arbeits-
gelegenheit vorhanden ist, während nach Ablauf
derselben Arbeitsmangel sich einstellt, ist auch im
Großbetrieb der Landwirtschaft die Saisonarbeit
aufgekommen. Nur in den Monaten, wo mit
Hochdruck gearbeitet werden muß, sieht sich der
Großgrundbesitzer veranlaßt, viele Arbeiter einzu-
stellen, die nach Erledigung der Erntegeschäfte
wieder außer Arbeit gesetzt werden. Die Nach-
frage nach diesen Arbeitskräften wird durch Saison-
(Wanderarbeiter gedeckt, insbesondere aus Ge-
bieten mit niedriger Lebenshaltung (Sachsen-
gängerei). Dadurch werden die Arbeitsverhältnisse
auf dem Land überhaupt verschlechtert und der
Strom der Landbevölkerung in die Städte und
Fabriken noch gesteigert. Dies bedeutet wieder
eine Verstärkung des industriellen Proletariats.
(Nähere Ausführungen über die ländliche Arbeiter-
frage, über die sittlichen und sozialpolitischen
Folgen der Sachsengängerei, die Lebenshaltung
des ländlichen Proletariats s. Herkner a. a. O.)
Eine besondere Nachtseite des Geisteslebens in
der kapitalistischen Ara ist die Uberproduktion an
Existenzen, die ihrer Bildung nach den höheren
Ständen zuzurechnen wären, aber infolge Mangels
an ausreichenden Hilfsmitteln, mangelnder Be-