Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Staat mit irgend einer Zwangsordnung ist dann 
nicht mehr notwendig; er ist überhaupt bloß ein 
Unterdrückungsinstrument in der Hand der Be- 
sitzenden gegenüber den Besitzlosen. Ist einmal 
durch die soziale Reform die Hauptquelle aller Ver- 
gehen, das Eigentum in seiner jetzigen Form be- 
seitigt, dann sorgt die Vernunft selbst dafür, daß 
die nötigen Verkehrsnormen ohne Rechtszwang sich 
realisieren. Die Gesellschaftsverfassung wird dann 
im Gegensatz zur staatlichen Zwangsordnung eine 
„anarchische“ sein, d. h. eine ohne staatlichen Zwang 
auf freien Verträgen beruhende. Die Widerlegung 
dieser gesellschaftlichen Utopie wird durch Proud= 
hon selbst besorgt, der in späteren Jahren vom 
„Anarchismus“ zum „Föderalismus“ mit wenig- 
stens gewissen staatlichen Funktionen sich bekehrte 
und über die Möglichkeit einer ganz staatslosen 
„anarchischen“ Ordnung folgendes Urteil sällt: 
Herrschaftslosigkeit sei nicht möglich unter Men- 
schen. „Man hat niemals eine nur etwas geord- 
nete Nation gesehen, welche dieses wesentlichen Or- 
gans entbehrt hätte Ohne Regierung sinkt die 
Gesellschaft unter den wilden Zustand herab — 
für die Menschen kein Eigentum, keine Freiheit, 
kein Fortschritt. Die Regierung ist zu gleicher Zeit 
der Schild, der das Recht beschützt, der Degen, wel- 
cher es rächt, die Wage, welche es bestimmt, und 
das Auge, welches es bewacht“ (Justice II 6, bei 
Diehl a. a. O. III 166/167). Mit dem neueren 
Anarchismus der Tat und dem Terrorismus hat 
diese Proudhonsche anarchische Theoriean sich nichts 
zu tun; Proudhon will für sich im Grund ein 
friedlicher Sozialreformator sein. Aber dabei bleibt 
bestehen, daß sein Haß und sein maßloser Angriff 
auf staatliche Ordnung, seine Tiraden von der 
Schädlichkeit und Entbehrlichkeit der staatlichen 
Zwangsordnung die Ideenwelt dieses neuen Anar- 
chismus der Tat weithin beeinflußt hat. Seiner 
Mißachtung und Verkennung der Bedeutung staat- 
licher Ordnung tritt sein fanatischer Haß gegen 
alle Religion trotz gelegentlicher Phrasen eben- 
bürtig zur Seite. 
5. Die wissenschaftliche Bewertung 
Proudhons hat manchen Wandel erlebt. Nach 
einer früheren Geringschätzung erkennt man doch 
jetzt die geistig bedeutende Persönlichkeit und auch 
seine bedeutsame Stellung in der Entwicklung des 
Sozialismus mehr und unbefangener an (ogl. die 
interessante Zusammenstellung bei Diehl a. a. O. 
II 318 A. 1; III 185/186). Die nicht geringen 
Schattenseiten seiner wissenschaftlichen Persönlich= 
keit, die proteusartige Wandlungsfähigkeit seiner 
Auffassung, die Gespreiztheit seines Autodidakten- 
tums, die Maßlosigkeit seiner Sprache, sein fana- 
tischer Haß gegen alle Religion brauchen dabei 
ebensowenig übersehen zu werden wie die großen 
Fehler und Schiefheiten seines Systems. Aber alles 
in allem gilt auch von ihm, was sein Biograph 
und Hritiker Diehl über den sog. wissenschaftlichen 
Sozialismus überhaupt sagt: „Trotz der Einseitig- 
keiten, trotz der schiefen Grundlage und der vielen 
Proudhon. 
  
400 
Irrtümer bieten doch seine Ausführungen wegen 
ihres Ideenreichtums vielfache Anregung zu tieferer 
Betrachtung der ökonomischen Probleme und ent- 
halten eine zum Teil sehr berechtigte Kritik des 
bequemen Optimismus der liberalen Okonomie, 
der Smithianer und der Bastiatiden“'(Diehla. a. O. 
I v). Die Hervorhebung der Schattenseiten sowohl 
des privatwirtschaftlichen wie des gemeinwirtschaft- 
lichen Systems darf Proudhon ohne Zweifel als 
Verdienst angerechnet werden. Von seiner Kritik 
des letzteren sagt Schäffle: „Seit der Kritik des 
Aristoteles gegen den Kommunismus ist über 
letzteren kaum etwas besseres gesagt worden, als 
was Proudhon in seinem System der ökonomi- 
schen Disharmonie den Kommunisten ins Gesicht 
gesagt hat“ (Kapitalismus und Sozialismus 
(1870]) 375). Wegen seiner scharfen Ver- 
werfung des Kommunismus, wegen seines Ab- 
lehnens einer Vergesellschaftung der Produktion 
und einer Organisation der Arbeit und seines 
grundsätzlichen Eintretens für die privatwirtschaft- 
liche Produktionsweise hat man schon Bedenken 
erhoben, Proudhon als Sozialisten zu bezeichnen. 
Und doch ist er dem Sozialismus zuzurechnen zu- 
nächst wegen seiner der geltenden Privateigentums- 
ordnung so feindlichen Grundstimmung insbeson- 
dere verbindet ihn mit dem Sozialismus der 
gleiche rechtsphilosophische Grundgedanke, der 
— ob zugestanden oder nicht — doch das ethische 
Lebensprinzip des Sozialismus ist, daß nämlich 
der Arbeiter in der gegenwärtigen kapitalistischen 
Produktionsweise den vollen Ertrag seiner Arbeit 
nicht erhalte und um das Recht auf den vollen 
Arbeitsertrag komme. Sodann finden sich bei 
Proudhon die wichtigsten Fundamentalsätze der 
ökonomischen Theorie des modernen Sozialismus, 
und zwar hat er sie ausgesprochen vor Marx und 
Rodbertus. Mit Recht wird Proudhon deshalb 
als einer der ersten Vertreter des wissenschaftlichen 
Sozialismus bezeichnet. Dabei fassen wir freilich 
den Begriff „wissenschaftlicher Sozialismus“ nicht 
als Schlagwort im Sinn des entwicklungs- 
geschichtlichen Sozialismus, der jede rationale 
Konstruktion und jede rechtsphilosophische Orien- 
tierung als unwissenschaftlich ablehnt. Als wissen- 
schaftlichcharakterisiert sich der Sozialismus Proud- 
hons, insofern Proudhon eine Theorie der öko- 
nomischen Zusammenhänge zu geben sucht und auch 
bei seinen Reformplänen eine ökonomische Theorie 
zu Grunde legt. Unwissenschaftlich wäre im Gegen- 
satz hierzu ein Reformplan, der lediglich durch rein 
willkürliche Machtgebote ohne beabsichtigte Rück- 
sichtnahme auf ökonomische Zusammenhänge durch- 
geführt werden sollte. Proudhon geht mit dem 
wissenschaftlichen Sozialismus davon aus, daß 
durch ökonomische Vorgänge der Reichtum aus der 
Gesellschaft hinausgekommen ist und durch ökono- 
mische Vorgänge auch wieder hereingebracht werden 
soll (ogl. Diehl a. a. O. II 307). Diese ökonomi- 
schen Zusammenhänge hat Proudhon zu analysieren 
versucht durch seine Theorien vom Wert, Kapital,
	        
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