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Staat mit irgend einer Zwangsordnung ist dann
nicht mehr notwendig; er ist überhaupt bloß ein
Unterdrückungsinstrument in der Hand der Be-
sitzenden gegenüber den Besitzlosen. Ist einmal
durch die soziale Reform die Hauptquelle aller Ver-
gehen, das Eigentum in seiner jetzigen Form be-
seitigt, dann sorgt die Vernunft selbst dafür, daß
die nötigen Verkehrsnormen ohne Rechtszwang sich
realisieren. Die Gesellschaftsverfassung wird dann
im Gegensatz zur staatlichen Zwangsordnung eine
„anarchische“ sein, d. h. eine ohne staatlichen Zwang
auf freien Verträgen beruhende. Die Widerlegung
dieser gesellschaftlichen Utopie wird durch Proud=
hon selbst besorgt, der in späteren Jahren vom
„Anarchismus“ zum „Föderalismus“ mit wenig-
stens gewissen staatlichen Funktionen sich bekehrte
und über die Möglichkeit einer ganz staatslosen
„anarchischen“ Ordnung folgendes Urteil sällt:
Herrschaftslosigkeit sei nicht möglich unter Men-
schen. „Man hat niemals eine nur etwas geord-
nete Nation gesehen, welche dieses wesentlichen Or-
gans entbehrt hätte Ohne Regierung sinkt die
Gesellschaft unter den wilden Zustand herab —
für die Menschen kein Eigentum, keine Freiheit,
kein Fortschritt. Die Regierung ist zu gleicher Zeit
der Schild, der das Recht beschützt, der Degen, wel-
cher es rächt, die Wage, welche es bestimmt, und
das Auge, welches es bewacht“ (Justice II 6, bei
Diehl a. a. O. III 166/167). Mit dem neueren
Anarchismus der Tat und dem Terrorismus hat
diese Proudhonsche anarchische Theoriean sich nichts
zu tun; Proudhon will für sich im Grund ein
friedlicher Sozialreformator sein. Aber dabei bleibt
bestehen, daß sein Haß und sein maßloser Angriff
auf staatliche Ordnung, seine Tiraden von der
Schädlichkeit und Entbehrlichkeit der staatlichen
Zwangsordnung die Ideenwelt dieses neuen Anar-
chismus der Tat weithin beeinflußt hat. Seiner
Mißachtung und Verkennung der Bedeutung staat-
licher Ordnung tritt sein fanatischer Haß gegen
alle Religion trotz gelegentlicher Phrasen eben-
bürtig zur Seite.
5. Die wissenschaftliche Bewertung
Proudhons hat manchen Wandel erlebt. Nach
einer früheren Geringschätzung erkennt man doch
jetzt die geistig bedeutende Persönlichkeit und auch
seine bedeutsame Stellung in der Entwicklung des
Sozialismus mehr und unbefangener an (ogl. die
interessante Zusammenstellung bei Diehl a. a. O.
II 318 A. 1; III 185/186). Die nicht geringen
Schattenseiten seiner wissenschaftlichen Persönlich=
keit, die proteusartige Wandlungsfähigkeit seiner
Auffassung, die Gespreiztheit seines Autodidakten-
tums, die Maßlosigkeit seiner Sprache, sein fana-
tischer Haß gegen alle Religion brauchen dabei
ebensowenig übersehen zu werden wie die großen
Fehler und Schiefheiten seines Systems. Aber alles
in allem gilt auch von ihm, was sein Biograph
und Hritiker Diehl über den sog. wissenschaftlichen
Sozialismus überhaupt sagt: „Trotz der Einseitig-
keiten, trotz der schiefen Grundlage und der vielen
Proudhon.
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Irrtümer bieten doch seine Ausführungen wegen
ihres Ideenreichtums vielfache Anregung zu tieferer
Betrachtung der ökonomischen Probleme und ent-
halten eine zum Teil sehr berechtigte Kritik des
bequemen Optimismus der liberalen Okonomie,
der Smithianer und der Bastiatiden“'(Diehla. a. O.
I v). Die Hervorhebung der Schattenseiten sowohl
des privatwirtschaftlichen wie des gemeinwirtschaft-
lichen Systems darf Proudhon ohne Zweifel als
Verdienst angerechnet werden. Von seiner Kritik
des letzteren sagt Schäffle: „Seit der Kritik des
Aristoteles gegen den Kommunismus ist über
letzteren kaum etwas besseres gesagt worden, als
was Proudhon in seinem System der ökonomi-
schen Disharmonie den Kommunisten ins Gesicht
gesagt hat“ (Kapitalismus und Sozialismus
(1870]) 375). Wegen seiner scharfen Ver-
werfung des Kommunismus, wegen seines Ab-
lehnens einer Vergesellschaftung der Produktion
und einer Organisation der Arbeit und seines
grundsätzlichen Eintretens für die privatwirtschaft-
liche Produktionsweise hat man schon Bedenken
erhoben, Proudhon als Sozialisten zu bezeichnen.
Und doch ist er dem Sozialismus zuzurechnen zu-
nächst wegen seiner der geltenden Privateigentums-
ordnung so feindlichen Grundstimmung insbeson-
dere verbindet ihn mit dem Sozialismus der
gleiche rechtsphilosophische Grundgedanke, der
— ob zugestanden oder nicht — doch das ethische
Lebensprinzip des Sozialismus ist, daß nämlich
der Arbeiter in der gegenwärtigen kapitalistischen
Produktionsweise den vollen Ertrag seiner Arbeit
nicht erhalte und um das Recht auf den vollen
Arbeitsertrag komme. Sodann finden sich bei
Proudhon die wichtigsten Fundamentalsätze der
ökonomischen Theorie des modernen Sozialismus,
und zwar hat er sie ausgesprochen vor Marx und
Rodbertus. Mit Recht wird Proudhon deshalb
als einer der ersten Vertreter des wissenschaftlichen
Sozialismus bezeichnet. Dabei fassen wir freilich
den Begriff „wissenschaftlicher Sozialismus“ nicht
als Schlagwort im Sinn des entwicklungs-
geschichtlichen Sozialismus, der jede rationale
Konstruktion und jede rechtsphilosophische Orien-
tierung als unwissenschaftlich ablehnt. Als wissen-
schaftlichcharakterisiert sich der Sozialismus Proud-
hons, insofern Proudhon eine Theorie der öko-
nomischen Zusammenhänge zu geben sucht und auch
bei seinen Reformplänen eine ökonomische Theorie
zu Grunde legt. Unwissenschaftlich wäre im Gegen-
satz hierzu ein Reformplan, der lediglich durch rein
willkürliche Machtgebote ohne beabsichtigte Rück-
sichtnahme auf ökonomische Zusammenhänge durch-
geführt werden sollte. Proudhon geht mit dem
wissenschaftlichen Sozialismus davon aus, daß
durch ökonomische Vorgänge der Reichtum aus der
Gesellschaft hinausgekommen ist und durch ökono-
mische Vorgänge auch wieder hereingebracht werden
soll (ogl. Diehl a. a. O. II 307). Diese ökonomi-
schen Zusammenhänge hat Proudhon zu analysieren
versucht durch seine Theorien vom Wert, Kapital,