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größte Unglück Deutschlands das geistliche Fürsten-
tum, dessen Abhängigkeit vom Papst diesen zum
zweiten Oberherrn des Reichs erhebe (ebd. 3, 8;
7, 9). Wie Luther, sieht er in der Verbindung
des Reichs mit dem Papst und Italien, wie sie
das Kaisertum mit sich brachte, nur den ärgsten
Nachteil für Deutschland (ebd. 1, 15). Leiden-
schaftlich erbittert gegen Osterreich, findet er in
dessen Politik überall nackten Egoismus versteigt
sich sogar zu der Verleumdung, Osterreich unter-
halte künstlich die Türkenfurcht, um von den Deut-
schen Geldhilfe zu erpressen (ebd. 7, 4). Während
er aber die geistlichen Fürsten am liebsten durch
Sekularisation beseitigt sehen möchte (ebd. 8, 10),
erklärt er es für unmöglich, die Kaiserwürde an
ein anderes Haus als das habsburgische zu bringen
(ebd. 8, 4). Die darauf und auf Beschränkung
der kaiserlichen Macht gerichteten Vorschläge des
berüchtigten B. Chemnitz, der unter dem Namen
Hippolithus a Lapide seine Dissertatio de
ratione status in imperio nostro romano-
germanico (1640) erscheinen ließ, bekämpft
Pufendorf entschieden: sie könnten nur mit Hilfe
fremder Mächte durchgeführt werden, und dies
würde nur zu deren, nicht zu Deutschlands Nutzen
gereichen (ebd. 8, 3). Der deutsche Patrio-
tismus war trotz allem stärker als der Haß gegen
Osterreich. In der nach seinem Tod erschienenen,
aber von ihm selbst revidierten Ausgabe erklärt er
sogar jeden, der Frankreich unterstütze, für einen
Vaterlandsverräter. Pufendorfs eigne Reform-
vorschläge sind denn freilich bescheiden: das Wesent-
lichste ist, es solle ein consilium perpetunm, quod
socios repraesentet, dem Kaiser zur Seite gesetzt,
dagegen das Bündnisrecht beseitigt werden (ebd.
8, 4). Wenig — aber gingen nicht alle Reichs-
oder Bundesreformversuche der folgenden zwei
Jahrhunderte auf ähnliches hinaus? Pufendorfs
Ansichten von deutscher Geschichte und Reichs-
politik blieben lebendig und wirkten fort bis in
die Gegenwart herein.
Pufendorf gilt durch seine von Hugo Grotius
(1583/1645) und Thomas Hobbes (1588/1679)
beeinflußte Schrift De jure naturae et gen-
tium als der wissenschaftliche Begründer des Na-
turrechts, er wird gefeiert als der Befreier der
Rechtswissenschaft von der Vormundschaft der
Theologie: beides in gewissem Sinn richtig, und
doch bedeutet in Wahrheit sein vermeintliches Ver-
dienst um das Naturrecht nur dessen beginnende
Entartung. Pufendorf hat es unternommen, nach
geometrischer Methode aus dem einzigen Prinzip
des Geselligkeitsbedürfnisses heraus das ganze
System des Naturrechts als eine logische Not-
wendigkeit zu deduzieren. Schon Hugo Grotius
fand in seiner Schrift De iure belli et pacis
(1645) im Geselligkeitsbedürfnis das Grund-
prinzip des natürlichen Rechts und in der logi-
schen Deduktion die Methode seiner Entwicklung.
Was die Vernunft als mit der geselligen Natur des
Menschen übereinstimmend und daraus folgend er-
Pufendorf.
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kennt, darin besteht das durch keine geschichtliche
Wandlungabzuändernde jus naturale. In gleicher
Weise galt auch für Hobbes (De corpore politico,
1650) das corpus politicum als eine aus dem
Begriff ihres Zwecks durch reine Verstandestätig-
keit abzuleitende Maschine. Pufendorf hat dann,
Grotius und Hobbes kombinierend, das ganze
System synthetisch aus dem Gedanken entwickelt,
daß der Selbsterhaltungstrieb des Individuums
sich nur in der Befriedigung des Geselligkeits-
bedürfnisses erfüllen könne. Nach Pufendorf kommt
das natürliche Gesetz von Gott: Gott hat es den
ersten Menschen mitgeteilt; ohne diesen göttlichen
Ursprung entbehrte das natürliche Gesetz der ver-
pflichtenden Sanktion. Denn die Menschen können
sich nur durch Vertrag verpflichten; die Verbind-
lichkeit des Vertrags beruht aber selbst lediglich
auf dem Gesetz, dieses muß also vor dem Vertrag
wirksam sein, kann nur von Gott herrühren.
Gott hat den Menschen die Vernunft gegeben, um
das natürliche Gesetz zu erkennen, das überzeugte
Bewußtsein desselben zu gewinnen. Aber die
Vernunft findet die Gebote des Naturrechts nicht
aus der Betrachtung des Wesens Gottes, der
göttlichen Gerechtigkeit, an welcher der Mensch
Anteil erhält, sondern aus der Betrachtung der
Natur des Menschen, seiner Neigungen, seines
Nutzens oder Schadens. Das Fundament des
Naturrechts ist die notwendig gesellige Natur des
Menschen, die Tatsache, daß Gott den Menschen
als animal sociale geschaffen. War so das Na-
turrecht zwar nicht in seinem Urquell, wohl aber
in seinem materiellen Prinzip humanisiert, so
ward es dies auch in seinem Endziel: nach Pufen-
dorf erhellt der Zweck der geschaffenen Welt nicht.
deutlich genug, es sei also auch nicht einzusehen,
welche notwendige Beziehung die einzelnen Gebote
des Naturrechts auf jenen Zweck haben könnten.
Das Naturrecht ist damit auf den Umkreis dieses
Lebens beschränkt, es kennt bloß ein menschliches,
nicht das göttliche Gericht, es zieht bloß die äußern
Handlungen, nicht das Innere des Menschen in
Betracht; was darüber hinausliegt, gehört ledig-
lich in das Gebiet der christlichen Moraltheologie.
So kommt Pufendorf dazu, die römisch-rechtliche
Definition von Gerechtigkeit: „der beständige
Wille, jedem das Seine zu geben“, zu tadeln, weil
die Rechtswissenschaft sich vorzugsweise mit der
Gerechtigkeit der Handlungen, mit den Personen
aber nur obenhin beschäftige — eine klägliche
Veräußerlichung des Rechtsbegriffs.
Indem Pufendorf die Sozialität als oberstes
Prinzip aufstellt, aus dem die einzelnen Gebote
des Naturrechts abzuleiten seien, gelangt er im
Anschluß an Grotius dazu, den gesellschaft-
lichen Vertrag als die Grundlage der Rechts-
ordnung zu behaupten. Die Ehe entsteht durch die
von Natur eingepflanzte Neigung, wozu der Ver-
trag zwischen Mann und Weib kommt. Selbst die
natürliche Gewalt beruht neben dem natürlichen
Gesetz auf stillschweigender Ubereinkunft. Die ein-