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kanonischen Grundlagen aufgebaute „gemeine
Zivilprozeß“ und das Strafrecht, für welches das
Gesetzbuch Karls V. von 1532 (Constitutio cri-
minalis Carolina) eine einheitliche Grundlage
geschaffen hatte. Als seit dem 18. Jahrh. der zu-
nächst völlig zurückgetretene Gegensatz zwischen
nationalem und importiertem Rechtsgut wieder
ins Bewußtsein der Zeitgenossen trat und das
lange vernachlässigte und zum Teil verschüttete
nationale Recht zum Gegenstand der Forschung
gemacht wurde, faßte man als Deutsches
Recht, insbesondere als deutsches Pri-
vatrecht die Rechtseinrichtungen zu-
sammen, die sich in Deutschland als
Erbstücke der älteren nationalen Rechts-
entwicklung erhalten hatten. Unter vor-
wiegendem Festhalten an dieser Bedeutung ist der
Begriff „Deutsches Recht“ als der heute in der
MWissenschaft herrschende zu bezeichnen.
Neben die dogmatische Bearbeitung des gelten-
den Rechtsstoffs von nationaler Abstammung trat
seit dem 18. Jahrh. in stets fortschreitender Ver-
tiefung in die deutsche Rechtsvergangenheit die
Forscherarbeit der historischen Germanistenschule,
durch die Romantik und die Belebung der histori-
schen Wissenschaften im 19. Jahrh. mächtig geför-
dert. Sie blieb bald nicht mehr an den Denkmälern
der deutschen Rechtsvergangenheit stehen, sondern
richtete ihren Blick auf die Rechtsentwicklung ver-
wandter Bölker germanischer und romanischer Zunge.
Besonders nachhaltige Befruchtung empfing die
deutsch-rechtliche Forschung aus der Verarbeitung
der nordischen (norwegisch -schwedisch = dänischen)
Rechtsquellen, die, in großem Reichtum über-
liefert, trotz ihrer relativ späten Aufzeichnung (12.
bis 14. Jahrh.) vielfach einen Rechtszustand deut-
lich enthüllen, der dem Recht der germanischen
Urzeit der deutschen Stämme gleich= oder nahe-
kommt. Namentlich hat die Privatrechtsgeschichte,
insonderheit das Schuldrecht der germanischen
Völker, aus der Heranziehung der nordischen
Parallelen die größten Gewinne gezogen. Während
noch vor wenigen Jahrzehnten das ältere deutsche
Privatrecht als ein primitives und systemloses
Recht galt, ist die Wissenschaft vom Deutschen
Recht heute damit beschäftigt, nach allen Rich-
tungen die Erkenntnis des nationalen Rechts und
seiner Entwicklung zu geschlossenem Ausbau zu
bringen.
Besondere Verdienste hat sich die deutsch-recht-
liche Wissenschaft um die Vorbereitung der Rechts-
einheit erworben, die das B. G.B. für das Privat-
recht nach jahrhundertelanger Rechtszerrissenheit
gebracht hat. Ohne die allseitige Verarbeitung
der zahlreichen und zerstreuten Partikularrechte
durch die Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrh.
und durch die Vorkämpferarbeit O. Gierkes würde
das B.G.B. nicht den starken Einschlag nationaler
Rechtsgedanken enthalten, der ihm eignet, hätte es
sich von den römisch-gemeinrechtlichen Vorbildern
nicht befreien können.
Recht, Deutsches.
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Ja die Gegenwart erlebt das Schauspiel, daß
die Forscherarbeit für das Deutsche Recht sich für
die Aufhellung antiker Rechtsinstitute (griechisch-
ägyptisches Recht) ebenso fruchtbar erweist, wie sich
ältere deutsche Rechtsgedanken als wertvolle Form
für modernste Rechtsbedürfnisse neubelebt haben
(Genossenschaft, Treuhand, Schuld und Haftung).
Entsprechend der allgemeinen Stoffgliederung
der Rechtswissenschaft teilt sich die wissenschaftliche
Behandlung des Deutschen Rechts in Verfassungs-
geschichte (Geschichte des Staatsrechts und der
öffentlichen Verbände im Staat), Prozeßgeschichte,
Strafrechtsgeschichte. Nur das deutsche Privatrecht
hat noch in der Gegenwart den Doppelcharakter
einerhistorischen und einerrechtsdogmatischen Diszi-
plin. In seiner letzteren Funktion schlingt es das
einigende Band um den nicht unbeträchtlichen Be-
stand von Landesvorbehaltsrecht, das neben dem
B.G.B. als Partikularrecht erhalten geblieben ist
und in seinem Inhalt überwiegend Gegenstände von
nationaler Entwicklung enthält. Es versagt sich
aber auch nicht, für den gesamten heutigen Privat-
rechtszustand Deutschlands den Anteil des natio-
nalen Elements herauszustellen und für deutsche
Rechtsideen um neuen Boden zu werben. Führend
ist hierbei das monumentale Werk von O. Gierke,
Deutsches Privatrecht (bis jetzt 2 Bde, 1895/1905).
II. Die deutsche Verfassungsgeschichte, die
heute von Rechts= und Verfassungshistorikern gleich
intensive Bearbeitung erfährt, gliedert ihren Stoff
nach den großen Perioden der nationalen Staats-
bildung. Die germanische Zeit wird durch den
germanischen Volksstaat der Völkerschaften und
Stämme ausgefüllt und kennzeichnet sich durch
das demokratische Prinzip der Gleichberechtigung
aller freier Volksgenossen, mit wesentlich gleichem
Grundbesitz (Hufe), in Heer und Gericht. Die
fränkische Zeit eint die meisten westgermanischen
Stämme unter der Herrschaft der Frankenkönige,
entwickelt im Universalreich Karls d. Gr. zum
erstenmal staatliches Leben in großem Stil, drängt
im übrigen durch die Entwicklung der bevorrechte-
ten Schicht von kirchlichen und königlichen Amts-
trägern, durch die Anbahnung des Lehenswesens
und Rittertums, endlich durch die Bildung der
Grundherrschaften das freie Volk sehr zurück. Der
mittelalterliche deutsche Staat, der sich nach dem
Zerfall des Karolingerreichs unter schweren
Kämpfen zu staatlichem Eigenleben emporringt
und im wesentlichen die deutschsprechenden Stämme
vereinigt, ist denn auch ein ständischer Staat in
dem Sinn, daß die Schicksale des Ganzen durch
den König und die Großen bestimmt werden,
das Volk selbst dagegen völlig zurücktritt, bis in
den seit dem 11. Jahrh. mächtig emporblühenden
deutschen Städten das Bürgertum zu einem politi-
schen Faktor wurde. Der Staat selbst ist ein
Feudalstaat geworden an Stelle des karolingi-
schen Beamtenstaats. Aus absetzbaren Beamten
wurden Vassallen, die ihre Amtsbefugnisse mit den
ihnen verliehenen Lehen vererbten. Die daraus
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