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notwendig folgende Schwächung der königlichen
Gewalt konnte, im Gegensatz zu Frankreich und
England, durch die kräftigsten Herrscher nur
aufgehalten, nicht aber beseitigt werden. Nachdem
es Friedrich I. gelungen war, das Stammes-
herzogtum, den jahrhundertelangen Gegner des
Königtums, im Kampf mit Heinrich dem Löwen
niederzuwerfen, fielen die Früchte dieses Kampfes
nicht dem König, sondern den Fürsten und Herren
zu. In ihren Lehen und allodialen Herrschaften
entwickelten diese eine Landesherrlichkeit (domi-
nium terrae), bie alle öffentlichen Befugnisse zu
erfassen und direkte Eingriffe des Königtums aus-
zuschließen trachtete, so daß die Macht des Königs
auf die seiner Herrschaft unmittelbar unterworfenen
Gebiete (am Harz, in der Wetterau, im Elsaß, in
Schwaben), auf die namentlich von den Städten
aufgebrachten Reichssteuern, endlich auf die genau
begrenzten Vassallendienste beschränkt wurde, welch
letztere das vassallitische Reichsheer seit dem Hoch-
kommen des Söldnerwesens zur Bedeutungs-
losigkeit herabdrückten. Im übrigen mußten sich
die Herrscher auf die Fürstenstellung der eignen
Familie und ihrer Hilfsquellen, die sog. Haus-
macht, stützen; seit Ende des Mittelalters war das
Königtum (bzw. Kaisertum) fast nur ein Titel.
Die Reichsreform unter Maximilian I. tendierte
nach Umgestaltung des Reichs aus einer Mon-
archie in einen Bundesstaat. Die Glaubensspal-
tung und ihre Folgen, besonders der Dreißig-
jährige Krieg, brachten für das Verfassungsleben
keine geringeren Erschütterungen, als sie die gleich-
zeitig erfolgte Aufnahme der Fremdrechte für Pri-
vatrecht und Prozeß nach sich zog. Der West-
fälische Friede bahnte die Liquidation des heiligen
römischen Reichs an durch nahezu unbeschränkte
Anerkennung der Souveränität der deutschen
Fürsten. Im Reich konnte es, von einzelnen er-
folgreichen Gesetzgebungsakten (Ewiger Landfriede,
Schaffung des Reichskammergerichts, Einrichtung
der Reichskreise, peinliche Halsgerichtsordnung
Karls V., Reichspolizeiordnungen) abgesehen, zu
keiner kraftvollen Entwicklung des Staatslebens
mehr kommen. Das Reichsheer war nach Verfall
des mittelalterlichen Lehensheeres eine kümmer-
liche, unständige Söldnermiliz, das Finanz-
wesen des Reichs ein Bild kläglichen Bankrotts.
Dagegen erstarkten die Territorien mehr und mehr
zu wirklichen Staaten. Schon in den Jahrhun-
derten des ausgehenden Mittelalters wurde hier
der Feudalstaat durch das landesherrliche Be-
amtentum überwunden, wurden im Verein mit den
Landständen dauernde Grundlagen einer staat-
lichen Finanzwirtschaft gewonnen. Durch Länder-
zuwachs, durch strenge Durchführung der Unteil-
barkeit des Territoriums nach der Erbfolgeord-
nung der Primogenitur, durch Schaffung zentraler
Staatsorgane, durch innere Uberwindung des losen
Konglomerats einzelner Amter und Herrschaften,
durch eine nach einheitlichen Grundsätzen einge-
richtete Staatsverwaltung bewies der neuzeitliche
Recht, Deutsches.
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Territorialstaat, daß er der kräftige Träger der
staatlichen Entwicklung geworden war. Auf der
absoluten Macht des römischen Imperators, wie
sie das rezipierte Fremdrecht enthüllte, auf der da-
mit übereinstimmenden Staatslehre der Renais-
sance, endlich auf den ausländischen Vorbildern
baute sich das absolute Fürstentum auch in
Deutschland auf. Mächtigen Vorschub leistete in
den protestantischen Ländern die Kirchenhoheit des
landesherrlichen Summepiskopats, die ihrerseits
das Vorbild ähnlicher Bestrebungen an katho-
lischen Fürstenhöfen wurde. Der absolute Fürst
entfaltete eine rege Gesetzgebungsgewalt, welche
die Schranken der historischen Kontinuität der
Staatseinrichtungen vielfach durchbrach. Das
Volk nahm nur die Stellung von beherrschten
Untertanen ein, selbst der Vertretung der obersten
Schichten in den Landständen wußten sich die
Fürsten fast überall zu entledigen.
III. Das ältere deutsche Prozeßrecht wies den
starren Prozeßformalismus jedes primitiven Rechts-
gangs auf. Die Gerichte waren Volksgerichte, in
ihrer Besetzung aufgebaut auf dem Gegensatz des nur
prozeßleitenden Richters und des urteilfindenden
Dingvolks oder eines Ausschusses der Gerichts-
gemeinde, insbesondere der von Karl d. Gr. ein-
geführten Schöffen (12). Die Verhandlungen
erfolgten mündlich an festbestimmten Tagen im
Jahr (echte Dinge, seit Karl d. Gr. drei im Jahr)
oder auf besondere Ladung (gebotene Dinge).
Der Prozeßbetrieb lag lange Zeit ausschließlich
in Händen der Parteien (Anklageprinzip, „Wo
kein Kläger, da ist kein Richter"), erst allmählich
hob sich die Stellung des Richters und gelangte
man zu amtlicher Verfolgung der Verbrechen
Cuerst in den Gerichten der Karolingischen Königs-
boten (missi dominicil und in ihren Nachläufern,
den kirchlichen Sendgerichten). Strafprozeß und
Zivilprozeß waren nicht getrennt, alle Klagen hatten
ursprünglich mehr oder weniger Strafprozeß-
charakter. Der Beweis war grundsätzlich das Recht
des Beklagten, sich von der Klage zu reinigen.
Nur zögernd und zunächst für gesetzliche Spezial-
fälle hatte der Kläger das Beweisrecht. Die Be-
weismittel dienten ursprünglich nicht dazu, um
den Richter von der Wahrheit einzelner bestrittener
Tatsachen zu überzeugen, sie waren vielmehr rein
formale Mittel, aufgebaut auf dem Volksglauben
an ihre Beweiskraft, einzig dazu bestimmt, im
ganzen zu erweisen, auf welcher Seite das Recht
liegt. Die wichtigsten Beweismittel waren Eid
(Reinigungseid als Eineid des Beklagten und als
Eid mit Eidhelfern) und Gottesurteile (namentlich
gerichtlicher Zweikampf und Kesselfang oder Feuer-
probe). Urkunden und Geschäftszeugen treten später
hinzu. Nachdem schon die Gesetzgebung Karls
d. Gr. wichtige Reformen des älteren germanischen
Prozeßrechts gebracht hatte, bahnen sich noch
innerhalb der nationalen Rechtsentwicklung weitere
Verbesserungen an, gerichtet auf Zurückdrängung
des Formalismus zugunsten von Tatsachenermitt-